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"Wir streiten auf den falschen Plätzen"

Von Ina Weber

Politik

Ein Blick auf die Auswirkungen von Religion in Kindergärten und Schulen aufgrund der aufgeheizten Debatten über Kopftuch, Essen, Symbole und Rituale zeigt: Das Problem liegt im Grunde woanders.


Wien. Etwas hatte sich verändert. Nicht viel. Aber doch. Die Lehrerin lässt ihren Blick über ihre Klasse schweifen. Das ist es. Die 13-jährige D. sitzt plötzlich mit Kopftuch auf ihrem Platz. Niemand ist verwundert. Niemand kümmert sich darum. Die Kinder sind laut, aufgeregt und tauschen sich über Ferienerlebnisse aus. Es herrscht ganz normaler Schulalltag in der 3. Schulstufe einer Neuen Mittelschule (NMS) in Gürtelnähe in Meidling. Migrationshintergrund: fast 100 Prozent.

Für die Lehrerin, die anonym bleiben möchte, ist das Kopftuch-Thema freilich nichts Neues und, sie fügt hinzu, "auch keine große Sache". Selbst an ihrer Schule gebe es - wenn überhaupt - höchstens zwei bis drei Schülerinnen mit Kopftuch pro Klasse. "Wenn so ein Mädel dann nach einem Türkei-Urlaub mit Kopftuch zurückkommt, hat man natürlich auch Gedanken an Unterdrückung. Ich frage das Mädchen dann im Gespräch, warum sie ein Kopftuch trägt und wie es dazu gekommen ist. Sie sagt dann, weil sie das so wollte", erzählt die Lehrerin. Das könne man nun glauben, oder auch nicht.

Der Religionsunterricht findet an dieser Schule meist am Nachmittag statt, dann teilt sich die Masse in islamischen, katholischen und serbisch-orthodoxen Religionsunterricht auf. Mittagessen gibt es keines. Die Jugendlichen gehen nach Hause oder holen sich etwas. "Wir haben auch keine Rituale. Das einzige, was wir machen, ist vor Weihnachten einen Adventskalender. Das kommt auch bei den Jugendlichen noch ganz gut an", schmunzelt die Lehrerin. Konflikte gebe es, "oh ja, genug", so die Lehrerin, aber sicher nicht religiös bedingte.

Das Thema Kopftuch und der Umgang mit Religionen sowie deren Auswirkungen hat sich zuletzt aufgrund der Forderung von SPÖ-Landesparteisekretärin Barbara Novak nach einem Kopftuchverbot an Kindergärten und Schulen wieder zugespitzt. Obwohl die von Neo-Bürgermeister Michael Ludwig ernannte Managerin anschließend zurückruderte und feststellte, dass sie damit eher Aufklärungsarbeit gemeint hätte, blieb das Thema dennoch wieder hängen.

Die SPÖ Wien Frauen weisen mit einem Antrag auf ihr Anliegen hin: Sie wollen nicht, dass Mädchen im Kindergarten und der Volksschule Kopftuch tragen. Auf Nachfrage der "Wiener Zeitung", ob es denn Mädchen in Kindergärten und Volksschulen gibt, die Kopftuch tragen müssen, heißt es "kein Kommentar". Und vor allem Boulevardmedien schreiben immer wieder etwa über "Kinder mit Kopftuch in den Wiener Kindergärten". Privat zugespielte Fotos erscheinen, später werden diese Fotos vom Österreichischen Presserat, dem Verein zur Selbstkontrolle der Presse, oft verurteilt. Bei einem der Fälle stellte sich heraus, dass das betroffene Medium Fotos von einem muslimischen Fest publiziert hatte und jene Kinder ohne Kopftuch einfach abgeschnitten hatte. Das Kopftuch tragende Kleinkind - eine Mär?

Vieles, was über das Tragen von Kopftuch bei Musliminnen berichtet wird, sei falsch, halte sich in den Medien aber hartnäckig, sagt Carla Baghajati von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Kopftuchtragen habe mit Mündigkeit zu tun. Von der Religion her werde es wie andere Teile der Glaubenspraxis mit der körperlichen und geistigen Reife verknüpft. "Das ist ein höchst individueller Prozess, weshalb es auch keine fixen Altersangaben gibt", betont sie. Letztlich gehe es immer um eine freie Entscheidung, die die junge Frau für sich zu treffen habe. Daher tritt sie gegen jede Art von Druck oder Bevormundung ein, sei es in Form von Kopftuchzwang oder Kopftuchverboten.

Baghajati betont weiters: "Wir Muslime haben kein Problem mit dem Kreuz, das in Kindergärten oder Schulen hängt. Wir haben auch kein Problem mit Nikoläusen oder Osternestern". Positiv sieht sie den Trend zu multireligiösen und interkulturellen Feiern wie zu Anfang oder Ende des Schuljahres. Auch die Essensfrage sei weitgehend unproblematisch, denn es werde zunehmend Vegetarisches angeboten, und das komme den Muslimen sehr entgegen.

Menüauswahl in Kindergarten und Hort

Tatsächlich werden in ganz Wien in jedem öffentlichen Wiener Kindergarten oder jeder Schule mehrere Speisen angepriesen. "Es gibt immer drei verschiedene Mittagsmenüs. Die Eltern entscheiden sich im Zuge des Aufnahmegesprächs für ein Menü ihrer Wahl", heißt es aus der MA10, zuständig für Kindergärten und Horte, zur "Wiener Zeitung". Man entscheidet sich zwischen einer ausgewogenen Mischkost, einem schweinefleischfreien Menü oder einem fleischlosen Menü. "Ob ein Kind aus gesundheitlichen oder aus religiösen Gründen eine bestimmte Menüfolge bekommen soll, entscheiden die Eltern beziehungsweise Obsorgeberechtigten", heißt es.

Aufgrund des Essens und des Kopftuches dürfte es zu keinem Kulturkampf kommen. Aber wie verhält es sich mit dem Kreuz, das in den öffentlichen Schulen hängt? In Schulen haben Kreuze zu hängen, wenn die Mehrheit der Schüler einem christlichen Glaubensbekenntnis angehört, so ist es im Religionsunterrichtsgesetz auf Bundesebene fest verankert. Und nicht nur die öffentlichen Schulen, auch alle Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht sind davon betroffen. Das Kreuz ist demnach fest im österreichischen Bildungswesen und damit in der österreichischen Kultur verankert - und scheint auch jede Diskussion über eine religionsfreie Umgebung in der Schule im Keim zu ersticken. In der NMS in Meidling hängen keine Kreuze, denn dort ist der christliche Glaube in der Minderheit. Aber selbst dort, wo Kreuze hängen, haben Muslime laut Baghajati kein Problem damit. "Die Vielfalt soll und muss sichtbar sein", sagt sie.

Wenn es nicht die Symbole wie das Kreuz sind oder das Kopftuch, das Essen oder die Rituale, die Probleme in Brennpunktschulen bereiten, was ist es dann? Warum werden die Sorgen und Ängste an etwas fest gemacht, womit es im Grunde kaum Probleme gibt? Für Musikpädagogen und Bildungsmanager Ernst Smole sind diese Themen ohnehin nur Scheinschauplätze. "Es wird nicht über die richtigen Dinge diskutiert", sagt er zur "Wiener Zeitung".

Ob Kopftuch oder nicht, das sei im Prinzip nicht wichtig. Es bräuchte viel mehr ein weit besseres Betreuungsverhältnis in Kindergärten und Schulen. "Bei uns kommt im Kindergarten oft nur ein Betreuer auf bis zu 25 Kinder. Das ist ein völlig indiskutables Verhältnis, das längst nicht mehr dem europäischen Standards entspricht", so Smole. Dieser sei vielmehr 1:7. "Wenn das bei uns so wäre, würde sich vieles entspannen", ist er überzeugt. Nach den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung sollten sich Erzieher um höchstens drei unter Dreijährige oder 7,5 Kindergartenkinder kümmern. Mit dem Betreuungsschlüssel ein Erzieher für 20 bis 25 Kindern halte Österreich den europäischen Negativrekord.

Für Smole läuft vor allem der Umgang mit Kleinkindern derzeit völlig schief. "Der Deutschlernstress bereits im Kindergarten ist ein Wahnsinn", sagt er. "Wir haben seit Jahrzehnten eine gute Frühkindforschung. Es ist erwiesen, dass das Testen von Kleinkindern nicht sinnvoll ist." Ein auf unmusikalisch getestetes Kleinkind könne noch immer ein berühmter Dirigent werden. Faktoren wie Schüchternheit in diesem Alter lassen das Kind durch jeden Test fallen. "Derzeit geht alles schief, was nur schief gehen kann." Gemeinsam mit Kollegen arbeitet Smole derzeit an einem Bildungsplan für Österreich, in dem das Wissen von rund 100 Fachleuten aus allen Wissenschaftsdisziplinen einfließt.

Und eines ist Smole angesichts der wiederkehrenden Debatte um die Angst um die österreichischen Werte wichtig zu sagen: "Wir reden dann hier wohl immer von den urbanen österreichischen Werten. Denn, wenn ich mir den ländlichen Raum anschaue, dort herrschen auch noch oft andere Werte. Frauen dürfen dort oft keine Verträge unterzeichnen, es herrschen patriarchalische Verhältnisse. Frauen sind öfter zuhause, weil es keine Nachmittagsbetreuung gibt, um nur einiges zu nennen. Also da hätten wir auch noch in Österreich viel zu tun", so Smole. "Wir streiten auf den falschen Plätzen", ist er überzeugt.

Meldepflicht bei Kindeswohlgefährdung

Doch ist die Situation an Wiens Kindergärten und Schulen, was die religiöse Debatte betrifft, wirklich so rosig? Die Stadt Wien hat festgelegt, dass es eine "Meldepflicht bei Kindeswohlgefährdung" gibt. Gemeldet werden muss etwa, wenn "das Kind nicht am Schwimmunterricht teilnehmen darf" oder, wenn "das Kind gezwungen wird, gegen seinen Willen aus religiösen Gründen bestimmte Kleidungs- oder Schmuckstücke zu tragen (Niqab, Kopftuch, Kreuz, Kippa, . . .). Laut Stadt Wien gibt es bis dato diesbezüglich aber keine gemeldeten Fälle. "In der Regel können diese Fragen immer vor Ort im Gespräch mit den Eltern gelöst werden", heißt es aus dem Büro von Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorsky (SPÖ).

Und so ist es auch in den recherchierten Fällen. Als sich ein Vater eines muslimischen Mädchens an einer öffentlichen Volksschule im 17. Bezirk weigerte, seine Tochter am Schwimmunterricht, der in der Schule verpflichtend ist, teilnehmen zu lassen, blieben Lehrer und Direktorin stur. Der Schwimmunterricht gehöre dazu. In diesem Fall nahm der Vater seine Tochter aus der Schule. Solche Fälle seien aber die Ausnahme, heißt es. In anderen Fällen kann Überzeugungsarbeit geleistet werden. Auch die Zeit, dass Väter Lehrerinnen aus religiösen Gründen nicht die Hand gegeben haben, sei lange vorbei, wird von zwei Lehrerinnen bestätigt. "Ich hatte mal so jemanden vor zehn Jahren, seitdem nicht mehr", sagt die eine. "Diese radikalen Väter gibt es nicht mehr", so die andere.

Szenenwechsel: Eine Lehrerin aus einer Volksschule in Hernals verteilt Süßigkeiten an ihre Schüler. Kinder und Lehrerin gehen dabei sehr vorsichtig vor. Es wird in das Sackerl erst einmal hineingeschaut. Die Lehrerin glaubt nicht, dass da Schweinegelatine drinnen ist. "Die Kinder sind da extrem vorsichtig", erzählt sie. "Ich sage ihnen eh immer, sie sollen mir sagen, was sie wollen", lacht sie. Auch bei Skitagen oder Ausflügen werde auf das Essensangebot geschaut, das sei aber kein Problem und "mittlerweile gang und gäbe".

Die Lehrerin in Hernals hat kein Mädchen mit Kopftuch in ihrer Klasse. Sie kenne aber viele ältere türkische Mädchen, die, wenn sie dann in der Pubertät das Kopftuch bekommen, unheimlich stolz darauf sind. "Für sie ist das die größte Ehre", sagt sie. Solange niemand in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt wird, sei sie für Weltoffenheit. Und so feiert sie mit ihrer 4. Klasse die Weltreligionen. "Wir gehen in eine Moschee, einen Tempel, eine Synagoge, eine evangelische und eine katholische Kirche - und suchen dann die Gemeinsamkeiten".

24 Religionen an den Wiener Volksschulen

In den Wiener Volksschulen gibt es derzeit laut Sprecher des Büros von Stadtschulrat Heinrich Himmer (SPÖ) 24 erfasste Religionen. Die am stärksten vertretenen sind allen voran die römisch katholische Kirche, gefolgt von islamisch, ohne religiöses Bekenntnis, serbisch-orthodox und evangelisch Augsburger Bekenntnis. Insgesamt sei aber die Summe aller christlichen Konfessionen, sprich katholisch, evangelisch und sämtliche andere christliche Kirchen, vor allem diverse orthodoxe Kirchen, ganz klar am größten.

Auch, wenn die christlichen Religionen die stärkste Gruppe im Land sind, so sind Kopftücher ein sichtbares Zeichen und dadurch leicht angreifbar. Senad Kusur, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Migration an der Donau-Universität Krems, warnt angesichts der Kopftuch-Debatten vor Verurteilungen all jener, die sich freiwillig für das Kopftuch entschieden haben. "Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass den negativen Schlüssen Frauen zum Opfer fallen, die überhaupt nicht das Thema der Diskussion sind, Personen, die sich freiwillig, durch ihre selbstbewusste persönliche Entscheidung und als Teil ihrer religiösen Praxis für diese Lebensweise entschieden haben", sagt er. Es klinge unglaubwürdig zu behaupten, dass es diese Menschen in unserer Gesellschaft nicht gibt. Vielmehr würden sie im selben Atemzug mit fünfjährigen Mädchen erwähnt, die zum Kopftuchtragen durch die Eltern veranlasst werden. "Man muss sich fragen, welchen Druck diese Menschen in der Öffentlichkeit dadurch ausgesetzt sind". so Kusur.

Kusur ist sich sicher, dass es sich beim Tragen von Kopftüchern bei Vorschulkindern - wenn überhaupt - um wenige Einzelfälle handelt. "Bei solchen Fällen ist es offensichtlich, dass keine selbstbewusste freiwillige Entscheidung des Kindes dahintersteht. Zugleich werden dem Kind wertvolle Erfahrungen entzogen, die für eine Partizipation in der Gesellschaft notwendig sind", sagt er. Dieses Thema zeige eine große Lücke auf. "Es ist gefährlich, dieses als ein politisches Thema zu sehen. Vielmehr gibt es einen Bedarf an Bildung und religiöser Mündigkeit. Durch das bloße Verbieten von Kopftüchern wird man das Problem nicht lösen. Man wird es für eine bestimmte Zeit unsichtbar machen."

In der NMS in Meidling ist alles sichtbar. Die im Verhältnis eher wenigen Kopftuch tragenden muslimischen Mädchen - im Gegensatz zu den vielen Musliminnen, die kein Kopftuch tragen - sind für die Lehrerin selbstverständlicher Teil des Schulbildes. Das habe mit persönlicher Freiheit und Entscheidung zu tun, sagt sie. "Was wir als Lehrer schon machen, ist, die Mädels darauf hinzuweisen, dass sie es damit schwerer am Arbeitsmarkt haben könnten", sagt sie, "das versuchen wir zu vermitteln".

Der Elternverband Wien war bis zum Ende der Recherche nicht erreichbar. Aus Elternkreisen war zu hören, dass die unterschiedlichen Kulturen geschätzt werden. Eine Mutter sagt: "Ein Verstehen des Anderen nimmt die Angst. Bildung ist dabei das Um und Auf". "Wir haben ein ganz anderes Problem", so eine Direktorin einer Volksschule: "Das Fiasko ist die Personalknappheit. Wenn wir mehr Personal hätten, wäre alles andere ein Kinderspiel."