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Stets zu Diensten

Von Jan Michael Marchart

Politik

Der Hype um die digitale Ökonomie begann als Kommerzkritik und Nachhaltigkeitsutopie. Was ist davon geblieben?


Wien. Einen wie ihn gibt es in jeder Stadt. Er sitzt da, die Augen geschlossen, schwingt mit seinem Oberkörper hin und her, im Takt zu den Balkanklängen, die er auf seiner alten Ziehharmonika spielt. Vor ihm steht ein kleines Plastikschälchen auf grauem Beton, ein paar Münzen liegen darin. Über dem älteren Mann mit den zerzausten Haaren und der abgetragenen Winterjacke fährt die U-Bahn auf einer Überführung, lautes Schienengeklacker im Fünf-Minuten-Takt. Aber kein Ballast. Wenige Handgriffe, und er kann wieder verschwunden sein, auf dem Weg zu seinem nächsten Zwischenstopp; heute U-Bahnhof Wien-Siebenhirten, morgen die Fußgängerzone in Barcelona. Übermorgen Rom? Wer soll ihn daran hindern?

Der Utopie der ganz großen Freiheit eines Straßenmusikers hängt die sogenannte "Gig Economy" an. Kein Begriff kann besser beschreiben, wie moderne, entgrenzte Arbeit aussehen kann. Unternehmen beschäftigen und bezahlen Fahrer und radelnde Essenslieferanten heute wie Musiker: in Form einzelner Auftritte, nach Gigs. Plattformen wie Uber oder Foodora locken mit ungeahnter Flexibilität und der Möglichkeit, in der Freizeit Geld dazuzuverdienen. Es geht um eine Wirtschaftsordnung, in der befristete Niedriglohn-Verhältnisse die Regel stellen und hohe Unsicherheit herrscht. Es geht um eine Umwälzung, um eine digitale Revolution, die so schnell gegangen ist, dass die Gesellschaft erst nach und nach erkennt, was sie für sie bedeutet - und dass sie eingehegt gehört.

Oft wird statt "Gig Economy" der flauschigere Ausdruck "Sharing Economy" in Verbindung gebracht. Hier geht es zwar weniger um digitale Tagelöhner, aber die beiden Formen verbindet der Zeitgeist. Der Begriff soll suggerieren, dass Menschen altruistisch teilen, was sie haben. Etwa ihre Wohnung über die Plattform Airbnb.

Die Grundidee des digitalen Teilens war zunächst, dass große Besitztümer möglichst allen zugänglich gemacht werden, indem man sich die Kosten teilt. Außerdem wurde damit lange das gute Gefühl der Nachhaltigkeit und des bewussten Konsums verbunden. Viele sahen darin das Potenzial, die ganze Weltwirtschaft ökonomisch wie ökologisch zum Positiven zu verändern. Die Meins-ist-deins-Ökonomie sollte die altbekannten Probleme des Kapitalismus lösen: Ressourcenverschwendung, Überproduktion, Umweltbelastung. Wenn Menschen über Carsharing-Projekte Autos teilen, gebe es weniger Abgase. Wenn mehr Menschen ihre Reste in ihrem Kühlschrank verschenken, würden weniger Lebensmittel verschwendet. Soweit die romantische Utopie.

Die Realität sieht anders aus und der Eindruck verfliegt, dass hier der Sozialismus durch die Hintertür eingeführt wird. Aus der Idee des Teilens ist ein milliardenschwerer Wirtschaftszweig entstanden, der seinen Preis hat: Wo über Airbnb Zimmer und inzwischen ganze Häuser vermietet werden, steigen die Mieten für den gesamten Stadtteil, auch deswegen, weil viele Zweitwohnungsbesitzer ihre Wohnungen lieber teuer und tageweise mit Touristen teilen, als sie an Dauerbewohner zu vermieten. Damit wird Wohnraum vom öffentlichen Mietmarkt abgezogen. Die Gentrifizierung schreitet voran, wodurch eine zahlungskräftige Klientel angezogen wird, die ökonomisch Schwächere aus den nun "hippen" Vierteln verdrängt und die Hotelbranche wurde wegen der niedrigen Preise geschwächt.

Wo Uber-Hobbyfahrer in schwarzen Vans für einen Nebenverdienst durch die Stadt brausen, werden einst sichere, aber bereits prekäre Jobs von Taxifahrern zerstört. "Und es besteht die Gefahr der ressourcenschonenden Übermöglichkeit", sagt Simon Schumich, Betriebswirt in der Arbeiterkammer Wien. Wird das Angebot billiger, könne die Nachfrage steigen, und Ökonomen wissen, dass sich für kollektiv genutzte Güter niemand verantwortlich fühlt und sie tendenziell übernutzt werden. Durch die billigere Airbnb-Unterkunft gehen sich im Jahr vielleicht ein, zwei Fernreisen per Flugzeug mehr aus, durch Car-Sharing steigen Leute womöglich ins Auto, die vorher eher zu Fuß gegangen wären, sagt Schumich; die Umweltbelastung würde steigen, der Nachhaltigkeitsgedanke sei dahin. Wenn viele von einem Dienst profitieren, heißt das nicht, dass er auch für alle ein Gewinn ist.

Der Konsument begibt sich zudem auf einen Markt, der noch so gut wie nicht geregelt ist. Diese Unternehmen brauchen wenig greifbares Anlagevermögen und wenige Beschäftigte. Formell werden die Dienstleistungen von Selbständigen erbracht, auch die Verträge kommen nicht mit, sondern über die Plattformen zustande. Wer Uber fährt, ist nicht bei Uber angestellt. Wer über Airbnb ein Zimmer mietet, bekommt die Wohnungen nicht von Airbnb zur Verfügung gestellt, sondern von einer Privatperson. Uber und Airbnb haben selbst kein einziges Auto oder ein einziges Hotel, sondern nur eine Software, über die private Infrastruktur vermittelt wird, gegen eine Nutzungsgebühr der Plattform vom Anbieter der Wohnung sowie vom Konsumenten.

Und dieses gefühlte Bisschen wächst rasant. Während im Sommer 2010 rund 47.000 Menschen mit Airbnb übernachtet haben, kletterte die Gästezahl 2015 nach eigenen Angaben bereits auf 17 Millionen. Enorme Summen wurden in solche profitorientierten Plattformen investiert, was oft zu überzogenen Marktbewegungen führte. Der geschätzte Unternehmenswert von Airbnb (2008 gegründet) betrug im Februar 2015 bereits 20 Milliarden US-Dollar, bei der Hotelkette Marriott waren es zu diesem Zeitpunkt etwa 23 Milliarden Dollar. Mit vier Millionen Inseraten in 190 Ländern ist Airbnb laut dem amerikanischen Nachrichtenunternehmen "Business Insider" mittlerweile so groß wie die fünf größten Hotelketten zusammen.

Mitunter deshalb gibt es auch eine Konfliktlinie zwischen alter und neuer Ökonomie. Die großen digitalen Unternehmen tendieren zu hoher Marktdominanz oder zu monopolähnlicher Marktmacht. Das schaffen sie mitunter, in dem sie über bestehende arbeits- oder gewerberechtliche Regeln eher hinwegsehen und Preis und Lohn niedrig halten. Ob Sozial- und Konsumentenschutzleistungen oder Beherbergungsabgaben wie die Ortstaxe: Wir sind so neu, das kann für uns nicht gelten, lautet die Silicon-Valley-Suada.

Jeremias Prassl ist nicht völlig überzeugt. Prassl ist außerordentlicher Professor der Rechtsfakultät der renommierten Universität Oxford. In wenigen Wochen erscheint sein Buch "Humans as a Service". Darin erforscht Prassl die Chancen und Risiken der digitalen Arbeitswelt. Viele Elemente seien gar nicht neu, wie man auf den ersten Blick vermutet, sagt er lapidar. Nur weil moderne Technologie etwas schneller und effizienter macht, heiße das nicht, dass auch das dahinterliegende Geschäftsmodell völlig neu ist. Prassl nennt das "Innovation Paradox". Uber sei zwar eine moderne App-Plattform, aber unterm Strich nur eine Transportfirma.

Mit dem Unterschied, dass sie, wie auch andere digitale Marktgrößen, die gesamte Ökonomie in einer Rasanz weiter auf den Kopf stellt, "indem auch Risiken des Marktes vom Arbeitgeber auf einen einzelnen Arbeitnehmer umgeladen werden", sagt Prassl. Also auf das schwächste Glied in der Kette, für das so lange Geld fließt, solange es fährt und radelt oder als Crowdworker (digitaler Tagelöhner) für internationale Firmen programmiert oder Logos entwirft. Wenn nicht oder im Krankheitsfall, ist der Geldhahn zu. Aber auch das sei nicht neu, sondern eine jahrzehntelange Entwicklung. "Die Technologie ist neu, die Trends im Arbeitsmarkt überhaupt nicht."

Und gerade weil die Grundlage der digitalen Arbeitsformen keine großartig andere sei, müssten die gleichen Regeln für Uber & Co. gelten, erst dann sei fairer Wettbewerb möglich, sagt Prassl. Das sei auch der Grund dafür, warum selbst die Liberalisierungstöne aus der Wirtschaft im Bezug auf die digitale Ökonomie ein Konzept der Fairness unterstützen.

Entgegen der oft dahingesagten Meinung hält Prassl den bestehenden Arbeitsschutz in großen Teilen mit den flexiblen Arbeitsformen für vereinbar. Dadurch würde der Service zwar teurer werden, aber es hätte Vorteile für Arbeiter und Konsument, weil er geschützter ist und mehr Lohn bezahlt werden müsste - aber auch für den Markt selbst. "Ein stärkeres Arbeitsrecht führt dazu, dass diese Unternehmen an der Börse reeller eingeschätzt werden, im Sinne einer Marktkorrektur", sagt Prassl.

Aber wie realistisch ist es, dass sich die digitale Ökonomie an die gleichen Regeln hält? Auf europäischer Ebene gab es im Bezug auf Uber jedenfalls schon Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, dass es sich dabei nicht bloß um ein Vermittlungsunternehmen, sondern um einen Transportdienstleister handelt. "Da haben sie schon eine Schlappe einstecken müssen", sagt der Arbeitsrechtler Martin Risak von der Universität Wien. "Das Nächste wird der Arbeitnehmerstatus sein." Gegen diesen wehrt sich Uber noch vehement. Für Risak ist die Sache aber klar. "Arbeitnehmer werden auf solchen Plattformen gezielt gelenkt, wie sie arbeiten müssen und kontrolliert." Unterm Strich sei es ein Arbeitsverhältnis.

Auch Rolf Gleißner, Arbeitsrechtsexperte der Wirtschaftskammer, beobachtet immer mehr Beschäftigungsverhältnisse, in denen mehrere Länder involviert sind und in denen es dadurch immer stärkere rechtliche Vollzugsprobleme gibt. Ein Beispiel: Wird man von einem Taxi angefahren, wendet man sich in der Regel gegen das Unternehmen und nicht gegen den Fahrer. Bei Uber könnte es schwierig werden, die Plattform dafür verantwortlich zu machen. Ebenso verhält es sich in Arbeitsrechtsfragen: "Wie groß die Chance ist, gegen eine amerikanische oder irische Firma Ansprüche durchzusetzen, kann man sich denken", sagt Gleißner. Aber auch das sei nicht neu. "Es ist schon seit der Arbeitsmarktöffnung schwierig, österreichische Lohnstandards für ausländische Firmen durchzusetzen, die Arbeiter nach Österreich schicken", sagt Gleißner. Durch die Digitalisierung verstärkt sich der Effekt aber. Es müssten europaweit Spielregeln dafür festgelegt werden.

Bisweilen entlud sich der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in der digitalen Ökonomie jedoch eher im Kleinen, in einzelnen Städten und Initiativen. In London streikten Taxifahrer gegen Uber. In Berlin wurde als Reaktion auf Airbnb das Vermieten von Wohnungen an Reisende gar verboten, was viele trotz hoher Strafen nicht davon abschreckt, es doch zu tun, und in Wien führt man vor allem gegen die Kurzvermieter-Plattform einen Kampf um faire Tourismusabgaben.

Und auch hier ist das Problem, "dass man diese Unternehmen kaum fassen kann", sagt der AK-Betriebswirt Schumich. Von 70 in Österreich aktiven Plattformen in diesem Bereich sind lediglich 17 registriert. Und nur eine ist so groß, dass sie einen Jahresgewinn veröffentlichen musste: die heimische Plattform willhaben.at. Der Rest ist monetär unsichtbar. "Wir wissen noch nicht einmal, von welchen Dimensionen wir sprechen", sagt Schumich. Die Finanzbehörden haben keinen Überblick und keinen Zugriff.

All diesen Druck kennt der Straßenmusiker nicht. Auch er ist nicht überall gerne gesehen, und auch er unterliegt gewissen Regeln. Aber wie laut es um ihn herum wird, bestimmen eher er selbst und seine Musik, die mal mehr, mal weniger Leute anzieht. Er bleibt überall nur so lange, wie es ihm Spaß macht. Seine Musik wird nicht von einer Plattform aus den USA angetrieben. Ist sie das, die ganz große Freiheit?