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Vorhang auf, alle Fragen offen

Von Simon Rosner

Politik

Beim Pflegeregressverbot dräut ein handfester Interessenkonflikt zwischen Bund und Ländern herauf.


Wien. Wer zahlt, schafft an, sagt eine Redewendung. Sie ist wohl als zeitgenössische Version des "Recht des Stärkeren" zu verstehen. Es gibt aber auch eine österreichische Variante dieser Weisheit: Wer anschafft, soll zahlen. Das sagen nämlich die österreichischen Landeshauptleute, wann immer die Bundesregierung etwas beschließt, das finanzielle Auswirkung auf die Länder hat. Unklar ist freilich, wer in der Beziehung von Bund und Ländern tatsächlich der Stärkere ist.

Der Ringkampf wird am Donnerstag eine erneute Runde erleben, wenn sich in Wien die Finanzlandesräte treffen, um die Folgen alter Beschlüsse (Pflegeregressverbot), jüngerer Entscheidungen (Doppelbudget 2018/19) und neuer Ideen (AUVA) zu debattieren. Der Gesprächsbedarf ist groß, da all dies finanzielle Konsequenzen für die Bundesländer bedeutet.

Durch die von der türkis-blauen Bundesregierung beschlossenen Steuerentlastungen sind die Länder insofern betroffen, als es die Ertragsanteile über den Finanzausgleich mindert. Die beabsichtigten Einsparungen bei der AUVA könnten dazu führen, dass die Unfallkrankenhäuser in die Obhut der Länder wandern. Und dann ist da noch der Pflegeregress, der kurz vor der Wahl abgeschafft wurde. Dadurch rechnen die Länder mit jährlichen Zusatzkosten von etwa einer halben Milliarde Euro. Doch wer zahlt?

Bisher hat die Bundesregierung den Ländern nur 100 Millionen als Kompensation angeboten, das ist den Ländern zu wenig. Der bloße Entfall des Vermögenszugriffs würde etwa das Doppelte ausmachen, argumentieren diese. Darüber hinaus wird aber mit erhöhtem Bedarf an stationärer Pflege gerechnet, wenn es keinen Regress mehr gibt.

Einem Rundruf des "Standard" zufolge ist der Ansturm bisher jedoch ausgeblieben. "Die Welle an neuen Anträgen, die wir erwartet haben, ist nicht eingetroffen", sagt etwa der steirische Soziallandesrat Christopher Drexler. Am stärksten ist die Nachfrage in Wien angewachsen. Von Jänner bis März gab es jeweils ein Plus zwischen 20 und 33 Prozent pro Monat bei den Anträgen.

Inwieweit die bisher vorliegenden Zahlen aussagekräftig für die langfristige Entwicklung sind, wird erst zu beobachten sein. Das Zentrum für Verwaltungsforschung (KDZ) hat in seiner Prognose jedenfalls Mehraufwendungen von 530 bis 650 Millionen Euro angegeben. Der Städtebund präsentierte kürzlich diese Berechnungen. Auch Städte und Gemeinden sind von der Abschaffung des Pflegeregresses betroffen, da sie Mitzahler und zum Teil auch Betreiber von Pflegeeinrichtungen sind.

Löger bleibt vorerst hart

Finanzminister Hartwig Löger will bei den 100 Millionen Euro bleiben. Diesen Betrag hätten Berechnungen des Finanzministeriums (noch unter seinem Vorgänger Hans Jörg Schelling) zum Zeitpunkt der Abschaffung ergeben. Löger machte jedenfalls klar, dass er keinesfalls Kosten abdecken wolle, die sich durch eine geänderte Nachfrage ergeben. Da auch nicht erhoben wird, ob ein Antrag auf stationäre Pflege nur deshalb gestellt wird, weil es keinen Vermögenszugriff mehr gibt, kann die tatsächliche Auswirkung des Regressverbots auch ex post nur geschätzt werden.

Die Länder beharren weiter auf ihrer Losung: Wer anschafft, muss zahlen. Und das werden sie beim Treffen der Finanzlandesräte am Donnerstag noch einmal bekräftigen. Das Ende des Pflegegregresses wird zudem vermutlich auch bald das Höchstgericht beschäftigen, da Tirol in einem konkreten Fall diesen Schritt angekündigt hat. Dabei geht es um eine Person in Tirol, die bereits vor dem Stichtag 1. Jänner 2018 in Pflege war.

Das Land Tirol war mit einer Forderung von mehr als 200.000 Euro beim Landesverwaltungsgericht abgeblitzt. Zwar ging es dabei um einen spezifischen Fall, der nicht so einfach pars pro toto auf andere Fälle umgelegt werden kann, dennoch herrscht Unklarheit darüber, wie das Gesetz zu interpretieren ist. Und da es zum Teil um zigtausende Euro geht, die vielleicht oder vielleicht eben nicht regressiert werden dürfen, ist diese Ungewissheit für Länder sowie auch für Pflegebedürftige und/oder Erben ein Problem.

Im Gesetz zum verfassungsrechtlichen Verbot des Pflegeregresses steht, dass ab 1. Jänner 2018 keine Ersatzansprüche mehr geltend gemacht werden dürfen sowie dass "laufende Verfahren einzustellen sind". Genau hier beginnt die Unklarheit. In Vorarlberg und Wien sind Fälle vor dem Obersten Gerichtshof anhängig, um zu klären, ob sie als "laufende Verfahren" zu bewerten sind. Und so war es auch in Tirol.

Was sind "laufende Verfahren"?

Der Anwalt Günter Flatz aus Feldkirch zählt dazu alle Verfahren, die noch nicht mit einem rechtskräftigen Titel geendet haben. Anders sei es jedoch zu werten, wenn die Regressforderung bereits anerkannt wurde, deren Abwicklung aber noch im Laufen sei, etwa eine Ratenzahlung.

Bernd Trappmaier, Wirtschaftsanwalt in Korneuburg, sagt, er verstehe den Begriff des "laufenden Verfahrens" umfassend. In Wien würde man ihn jedoch enger sehen, also auch bei alten Fällen regressieren wollen, die noch offen sind. Die Anwältin Nevena Shotekova-Zöchling von Robathin & Partner verweist ihrerseits auch auf noch nicht entschiedene Verlassenschaftsverfahren, wenn in diesen auch Regressforderungen eine Rolle spielen. Sind das laufende Verfahren? "Fast jede neue Regelung schafft Unsicherheit, und hier gibt es auch kein Bundesgesetz, sondern eine Verfassungsbestimmung, an die neun Landesgesetze angepasst werden müssen", sagt die Zivilrechtlerin.

Länder agieren unterschiedlich

In Niederösterreich sind alle laufenden Verfahren bereits eingestellt, ebenso in der Steiermark. In Oberösterreich werden vorerst nur eindeutige Fälle bearbeitet und strittige hintangestellt. Das ist auch eine Lösung, eine Zwischenlösung. Ähnlich auch in Tirol: Das Land meldet zwar Forderungen für Pflegekosten, die bei ihrem Pflegeantrag vor dem Stichtag ein Vermögen - in der Regel ist das Hausbesitz - geltend gemacht haben, sehr wohl an, regressiert aber vorerst nicht mehr, ebenso in Vorarlberg. Man wünsche sich eine Übergangslösung vom Bund, heißt es aus dem Büro des Vorarlberger Landeshauptmanns Markus Wallner.

Der Bund hat die offenen Fragen der Länder jedenfalls bisher nicht klären können, und die Judikatur steht hier auch erst am Anfang. Tirol ist beim Regress auch deshalb zurückhaltend, da bereits getätigte Zahlungen nicht mehr zurückerstattet werden können, sollte das Höchstgericht den Begriff des laufenden Verfahrens anders bewerten. Die juristische Unsicherheit reißt also zumindest vorübergehend die Lücke in den Landesbudgets in Sachen Pflege weiter auf - und verschärft den Konflikt mit dem Bund.