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Hochstapler als Gutachter

Von Michael Ortner

Recht
© Illustration: Irma Tulek

Erschlichene Titel, plagiierte Gutachten, mangelnde Qualität: Immer wieder tauchen Zweifel an der Expertise von Gerichtsgutachtern auf. Nun werden Vorwürfe gegen einen psychologischen Gutachter laut. Ist der Fall symptomatisch für ein kränkelndes System?


Woran ist jemand gestorben? Soll Vater oder Mutter das Sorgerecht des Kindes zugesprochen werden? Ist der Mörder psychisch krank? Ist es vertretbar, einen Flüchtling nach Afghanistan abzuschieben? Fragen wie diese werden vor Gericht von Sachverständigen beantwortet.

Sachverständige sind im Rechtsstaat unverzichtbar. In ihren Brotberufen sind sie angesehene Chefärzte, Diplom-Ingenieure, Psychologen. Sie leihen dem Gericht ihre spezielle Expertise, sollte diese gebraucht werden. Richter, Staatsanwälte, Angeklagte, Opfer verlassen sich auf ihr Wissen und ihre Objektivität. Die Entscheidung im Gerichtssaal fällt schlussendlich der Richter. Doch die Gutachten der Sachverständigen beeinflussen sein Urteil maßgeblich. Ihre Aussagen sind so gut wie unanfechtbar.

Sachverständige haben enorme Macht und Verantwortung. 122.574 Mal wurden sie im Jahr 2017 von österreichischen Gerichten und Staatsanwaltschaften bestellt. Kaum ein Zivil- oder Strafverfahren kommt ohne ihr Fachwissen aus. Was aber wenn ein Gutachter lügt? Wenn er gar nicht so kompetent ist, wie er vorgibt zu sein? Was, wenn Menschen auf Grundlage des Gutachtens eines Hochstaplers jahrelang hinter Gitter müssen, das Sorgerecht für ihr Kind verlieren, zurück in den Krieg geschickt werden?

In den vergangenen Monaten sind immer wieder Fälle aufgetaucht, die auf gravierende Missstände im Sachverständigenwesen hindeuten: erschlichene akademische Titel, abgeschriebene Gutachten, mangelnde Qualifikationen.

Plötzlich von Liste verschwunden

Im Juni 2017 wurde etwa bekannt, dass der Gerichtspsychologe Salvatore Giacomuzzi wesentliche Teile seiner Dissertation abgeschrieben hat. Er war lange als "Univ.Prof d. Sigmund Freud Privatuniversität MMag. DDr." als Sachverständiger des Landesgerichts Innsbruck gelistet. Sein Name tauchte auch bei öffentlichkeitswirksamen Verfahren wie bei dem gegen den Amokfahrer von Graz oder dem Missbrauchs-Prozess gegen das Kloster Mehrerau auf. Zahlreiche Medien zitierten ihn.

Er hat, wie es der Plagiatsjäger Stefan Weber in seinem Gutachten formuliert, "in Täuschungsabsicht" ohne Quellenangaben abgeschrieben. Weber setzte die Universität Innsbruck davon in Kenntnis. Giacomuzzi hat dort 2001 seine Doktorarbeit verfasst. Die Universität muss solchen Vorwürfen, wie gesetzlich vorgesehen, nachgehen. Schließlich geht es um die Entscheidung, ob ein akademischer Grad aberkannt wird. Die Uni hält sich dazu jedoch bedeckt: "Auf konkrete Anfragen kann aus Gründen der Amtsverschwiegenheit und des Datenschutzes nicht eingegangen werden." Nachsatz vom Pressesprecher: "Diese Verfehlungen müssen schon gravierend sein, damit es zur Aberkennung kommt."

Verdächtig erschien Plagiatsjäger Weber auch die Herkunft des Titels "Univ.-Prof." Recherchen bei mehreren Universitäten in Österreich und Südtirol ergaben, dass Giacomuzzi diesen Titel gar nicht tragen darf. "An der SFU ist Dr. Giacomuzzi weder auf eine Professur berufen worden noch ist ihm der Titel eines Professors verliehen worden", heißt es in einer Mail des Dekans der Sigmund-Freud-Privatuniversität an Weber. Bis Ende April schien die SFU noch zusammen mit dem Namen von Giacomuzzi in der SV-Liste auf. Nun ist der Name des Gerichtspsychologen plötzlich komplett von der Liste verschwunden. Giacomuzzi hat sich von der Liste streichen lassen, heißt es beim Landesgerichts Innsbruck. Offenbar wollte er dem Gericht zuvorkommen, das ein Überprüfungsverfahren gegen ihn eingeleitet hat. Das Verfahren wurde eingestellt, das Landesgericht ist nicht mehr zuständig. Mitte Mai ist auch auf der Website des Hauptverbandes sein Name verschwunden. Zu den Vorwürfen angesprochen, wollte Giacomuzzi gegenüber der "Wiener Zeitung" trotz mehrmaliger Nachfragen nicht Stellung beziehen.

"Die Welt will betrogen werden. Die Lüge hat heute schon fast eine Ebene erreicht, die der der Wahrheit entspricht." Diese Worte stammen von Giacomuzzi selbst – aus einem Zeitungsartikel über Hochstapler.

Abschreiben ist kein Delikt bei Gutachten

Obwohl Weber von Giacomuzzi geklagt wurde, nahm er auch seine Habilitationsschrift unter die Lupe. Die Hälfte hat er bereits geprüft. Das Fazit fällt eindeutig aus: In der Habilitationsschrift wurde werkprägend plagiiert. Noch mehr als in der Dissertation. "Die Habilitation müsste aberkannt werden", fordert Weber. "Bei Plagiaten gibt es keine Verjährung."

Der Plagiatsgutachter prüft regelmäßig wissenschaftliche Arbeiten. Seine Auftraggeber wollen anonym bleiben. Welche Intention sie verfolgen, weiß Weber nicht. Er entlarvte er inzwischen ein Dutzend akademische Titel als Schwindel. Doch einen Fall wie Giacomuzzi hatte er noch nie. "Bei Habilitationsschriften wird eigentlich vorausgesetzt, dass vorher schon wissenschaftlich gearbeitet wurde", sagt der Plagiatsgutachter. Offenbar hat Giacomuzzi erneut die nötige Sorgfalt vermissen lassen.

Wenig Mühe gemacht haben dürfte sich auch eine Kinderpsychologin aus Klagenfurt. Die gerichtlich zertifizierte Sachverständige plagiierte in einem Gutachten über eine Pflegschaftssache bei einem minderjährigen Kind. Pikant ist dabei, dass sie nicht nur von anderen Gutachten, Web-Sammlungen und journalistischen Texten abgeschrieben hat, sondern auch von deutschen Gerichtsurteilen. Die inhaltliche Qualität des Gutachtens scheint fragwürdig. Weber schreibt in seinem Gutachten dazu: "Das gegenständliche Gutachten entspricht in der Summe keinesfalls den wissenschaftlichen Grundstandards der psychologischen Wissenschaft." Gelistet ist die Gerichtspsychologin am Landesgericht Klagenfurt. Dort weiß man nichts von derartigen Vorwürfen. Eine Anzeige gegen sie liegt nicht vor. Die Psychologin war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

Folgen hat die Sachverständige vermutlich keine zu befürchten. Denn es gibt kein Delikt für ein abgeschriebenes Gutachten. "Den Sachverhalt des Plagiats im Gerichtssachverständigenverfahren gibt es nicht, weder im Eid, noch im Sachverständigen- und Dolmetschergesetz gibt es eine Stelle", sagt der Plagiatsprüfer. "Man geht davon aus, dass der Sachverständige über jeden Zweifel erhaben ist", kritisiert er die Praxis.

Was ist von einem Sachverständigen zu halten, der seinen akademischen Titel offenbar erschlichen hat? Welche Qualität kann ein Gutachten haben, in dem Textstellen einfach abgeschrieben wurden? Was sagen diese Fälle über das österreichische Sachverständigenwesen aus?

Expertise für jeden Lebensbereich

"Die Richter sind verpflichtet, dem Präsidenten des Gerichts Entziehungsgründe zu melden", sagt Alexander Schmidt, Vizepräsident des Handelsgerichts Wien und Syndikus des Hauptverbandes der Sachverständigen. Giacomuzzi selbst zog die Notbremse – nachdem ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Doch warum passierte in seinem Fall so lange nichts? Plagiatsjäger Weber hat eine Vermutung. "Die Gerichte befürchten, dass Gutachten angefochten werden." Die Rechtsanwältin Liane Hirschbrich glaubt, dass die Justiz die Folgen fürchtet, wenn bekannt wird, dass ein Sachverständiger nicht qualifiziert ist. "Dies könnte nämlich zur Folge haben, dass viele Fälle neu aufgerollt werden müssten."Laut Manfred Ainedter, Präsident der Vereinigung der österreichischen Strafverteidiger, seien die betroffenen Sachverständigen jedenfalls "sofort aus der Liste zu streichen".

Rund 9370 eingetragene Sachverständige in rund 700 Fachgebieten gibt es in Österreich. Von Abfallwirtschaft bis Zuckerbäckerwaren. Für jeden Bereich gibt es die nötige Expertise. In der Praxis verlassen sich Richter auf die Sachverständigen. Sie geben sogar die Richtung vor. "In der Regel ist es so, dass die Richter meistens das befolgen, was der Sachverständige sagt", sagt Christina Kolbitsch. Die Anwältin mit Schwerpunkt im Ehe- und Familienrecht misst den Sachverständigen eine elementare Rolle zu. Denn Richter greifen auf Gutachter zurück, von denen sie wissen, welche Meinung sie haben. Gerade in Pflegschaftsverfahren wirken sich die Entscheidungen des Gutachters auf die Eltern und Kinder aus. Die Meinung des Gutachters hingegen zu hinterfragen, ist in der Praxis extrem schwierig. Privatgutachten kosten viel Geld. Und es gibt noch eine Hürde. "Selbst, wenn ein Privatgutachter das gerichtliche Gutachten zerpflückt, kann es der Richter trotzdem abschmettern", sagt Kolbitsch. Wer mit Menschen redet, die täglich mit Gutachtern zu tun haben, bekommt den Eindruck, als wären Gutachter sakrosankt.

Um in Österreich Gutachter zu werden, muss man eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllen. Die Person muss Sachkunde und Kenntnisse über die wichtigsten Vorschriften des Verfahrensrechts kennen, vertrauenswürdig sein, in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen leben und eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen haben. "Ein Sachverständiger muss kein Wissenschafter sein", sagt Schmidt. Doch laut dem Eid, den sie ablegen, müssen sie auf Gott, den "Allmächtigen und Allwissenden" schwören; das Gutachten "nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln der Wissenschaft (der Kunst, des Gewerbes) angeben". Wissenschaftlich zu arbeiten, gehört also zu den Standesregeln.

Nur selten Probegutachten

Bevor man in die Sachverständigenliste aufgenommen wird, wird geprüft. "Nur höchstqualifizierte, absolut integre und zuverlässige Experten" dürfen laut Website des Hauptverbandes verwendet werden. Ein Richter und zwei Fachleute bilden eine Prüfungskommission. Sie kann veranlassen, dass der Prüfling ein Probegutachten erstellt. De facto wird es aber nur selten verlangt. "Das ist eine große Mühe, die sich die Kommission damit antut", beklagt Schmidt. 100 Euro erhalten die Kommissionsmitglieder pro Prüfungskandidat. Der zeitliche Aufwand, es von allen zu verlangen, wäre "völlig unrealistisch".

Für manche Berufsgruppen ist es ohnehin Pflicht. Für Gutachter etwa, die Unfälle rekonstruieren. Auch Psychologen und Psychotherapeuten müssen ein Probegutachten anfertigen. Alt- und Gebrauchtwarenhändler etwa müssen anhand von Fotos den Wert von Preziosen bestimmen. Doch nicht für alle Berufsgruppen gelten die gleichen Aufnahmeregeln. Ärzte, Psychologen, Ziviltechniker und Wirtschaftstreuhänder sind von der Sachkundeprüfung befreit. Hier zeigt sich der Verband kritisch. Denn die Zertifizierung wird als umfassende Beurteilung verstanden, von der keine Berufsgruppen ausgenommen werden sollten. "Man sollte allgemein prüfen und nichts anrechnen", sagt Schmidt.

Nach der Prüfung wird man als beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger gelistet. Erst fünf Jahre später wird wieder geprüft, ob die Voraussetzungen immer noch erfüllt werden. Bei dieser sogenannten Rezertifizierung werden Richter, die ein Gutachten des Sachverständigen in Auftrag gegeben haben, um eine Stellungnahme gebeten. Der Präsident des Gerichts fragt, ob sie mit dem Gutachten zufrieden waren, ob das Gutachten schlüssig war, ob es pünktlich eingelangt ist und ob es Mängel gab. Der falsche Ansatz, findet die Rechtsanwältin Hirschbrich. "Die Gutachten müssten vielmehr stichprobenartig von einem Experten überprüft werden." Eine Vorschrift dafür gibt es jedoch keine. Wie geprüft wird, hängt vom jeweiligen Präsidenten des Gerichts ab. Dahinter sieht die Strafverteidigerin ein viel grundlegenderes Problem. "Die Richter ziehen einen Sachverständigen dann bei, wenn sie selbst nicht die notwendige Fachkunde haben. Daher können die Richter auch nur eingeschränkt die Richtigkeit des Gutachtens prüfen."

Von der Sachverständigenliste gestrichen zu werden, kommt nur selten vor. 2016 gab es laut Justizministerium 1315 Rezertifizierungsverfahren – die Zahlen wurden erstmals für dieses Jahr erhoben. Von diesen Verfahren wurden österreichweit nur sechs negativ erledigt. Zum Teil ist es aber zu Antragszurückziehungen gekommen, weil sich abgezeichnet hat, dass die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Wie viele Rückzieher es gab, konnte das Justizministerium nicht statistisch erfassen. Interessant sind jedoch die Gründe für die negative Erledigung: überlange Dauer der Gutachtenserstattung, fehlende Versicherungsdeckung, Wegfall der Vertrauenswürdigkeit und mangelnde Qualität.