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"Habgier, Angst, Affekt"

Von Kathrin Lauer

Politik

Katastrophe von Parndorf: 25 Jahre Haft für die vier Hauptangeklagten. Staatsanwalt und Verteidigung wollen berufen.


Kecskemet. Wer den Richter János Jádi während der vielen Verhandlungstage dieses Mammutprozesses erlebt hat, konnte sicher sein, dass er die in Ungarn mögliche Höchststrafe nicht verhängen würde. Aber dass das Urteil so milde ausfallen würde gegen die vier Männer, die den Tod von immerhin 71 Flüchtlingen zu verantworten haben, war für die Prozessbeobachter doch überraschend: Jádi verurteilte die vier Hauptangeklagten zu jeweils 25 Jahren Haft. Das bedeutet, dass die fast drei Jahre Untersuchungshaft abgezogen werden und dass es die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung gibt.

Alle Vier sind demnach gleichermaßen schuld daran, dass die Flüchtlinge - darunter vier Kinder - in dem Kühllaster erstickt sind, der in der Nacht zum 27. August 2015 von der serbisch-ungarischen Grenze nach Österreich fuhr und in Parndorf von den Schleppern stehengelassen wurde. Der Staatsanwalt Gábor Schmidt hatte für alle Vier lebenslänglich beantragt: Der als Drahtzieher geltende Afghane, sein bulgarischer Stellvertreter, der Fahrer des Todeslasters und der Späher. Jádi, ein gemütlicher, besonnener und gegenüber den Journalisten stets hilfsbereiter Mann, stellte wohl fest, dass die Reisenden in dem Kühllaster qualvoll gestorben sind. Doch er merkte an, dass diese freiwillig eingestiegen waren und sich dessen bewusst sein mussten, dass die Reise nicht angenehm werden würde. Die vier Haupttäter seien "durch Unterlassung" für den Tod der Passagiere verantwortlich.

Wechselseitige Abhängigkeit

Sie haben es unterlassen, die Tür des luftdicht verschlossenen Kühllasters zu öffnen, obwohl die Flüchtlinge durch Schreien und Klopfen auf ihre akute Not aufmerksam gemacht hatten. Eine Tötungsabsicht lag nach Lesart des Richters nicht vor, deswegen ist ihre Tat auch kein Mord. Ob die Gruppe einen Chef gehabt habe oder nicht, sei in diesem Fall irrelevant, weil alle Aktionen "aufeinander aufgebaut" haben.

Alle Täter waren im Zusammenhang mit dem tragischen Vorgang voneinander abhängig. Vor allem aber sei jener brutale Satz des Afghanen, den der Staatsanwalt als Tötungsbefehl interpretiert, nicht als solcher zu werten. Der Afghane hatte während dieser Todesfahrt seinem Vize am von den Behörden abgehörten Telefon gesagt: "Sollen sie doch sterben", mit Bezug auf die Reisenden im Kühllaster. Laut Urteil des Richters war dieser Satz nicht ernst gemeint, sondern einzig und allein das Resultat einer nervösen Reaktion des Afghanen - auf die nervösen Signale des Fahrers, der überzeugt war, dass die Polizei schon hinter diesem Transport her sei. Stehenbleiben und die Tür des Lasters zu öffnen hätte aus der Sicht der Schlepper bedeutet, die Flüchtlinge und den Fahrer der Polizei preiszugeben.

Am 27. August gegen 4.50 Uhr morgens war der Lastwagen vom ungarischen Grenzort Morahalom aus losgefahren, Richtung Österreich. Schon gegen 5.30 Uhr haben die Passagiere begonnen, verzweifelt zu klopfen, wie man aus der abgehörten Telefonaten der Schlepper weiß. Daraus geht auch hervor, dass der Afghane sehr wohl immer wieder den Fahrer ausgefordert hat, stehenzubleiben, um den Reisenden Wasser zu geben und Luft in den Laderaum zu lassen. Während der Verhandlung hatte der Afghane immer wieder betont, dass es ihm darum ging, dass der Lastwagen auf keinen Fall an einer Tankstelle hält, weil dort die Flüchtlinge dem Publikum aufgefallen wären - sondern das das Fahrzeug zur Lüftung an einem unauffälligeren, einsameren Ort geparkt wird.

Schlepper ohne Führerschein

Dies sei von den übrigen drei Schleppern als Befehl interpretiert worden, auf gar keinen Fall anzuhalten. Um 9.16 Uhr fuhr der Lastwagen bei Hegyeshalom von Ungarn nach Österreich. Am Grenzübergang fiel er der Polizei auf - allerdings noch in einer unverdächtigen Weise: Der Fahrer hatte das Vehikel aus Versehen in die für Autos vorgesehene Spur gefahren anstatt in jene für Lkw. Dieser Zwischenfall machte den bulgarischen Fahrer noch nervöser. Er hatte zwar vorher schon fünf ähnliche Schleppertransporte absolviert, aber er musste jeden, auch nur vagen Kontakt mit der Polizei vermeiden, weil er keinen Führerschein besaß. Sein Landsmann, der Späher, der dafür zuständig war, eine eventuelle Polizeipräsenz zu melden, war wiederum ganz neu im Schlepperbusiness - und wohl deshalb anfällig für Panikreaktionen.

Um 10.50 Uhr entdeckte die österreichische Polizei den Laster voller Leichen in der Pannebucht bei Parndorf. Der Fahrer und der Späher waren fluchtartig verschwunden. "Habgier, Angst, Affekt" - das waren nach den Worten des Richters die Motive für das Verhalten der vier Hauptangeklagten. Und man möchte hinzufügen: Kopflosigkeit. Nicht anders ist es wohl zu werten, wenn man mit solchen Transporten Fahrer ohne Führerschein beauftragt und gelegentlich vergisst, die Autobahngebühr für die Tatwerkzeuge - also die Lastwagen - zu bezahlen.

Die Schleppergruppe habe "wie ein Großunternehmen" funktioniert, sagte der Richter, in dem jeder Akteur seine Rolle hatte und - wie man im Subtext versteht - keiner ohne den anderen handeln konnte. Der jetzt in Kecskemet verurteilte Afghane hatte von einem in Serbien aktiven pakistanischen Schlepper regelmäßig Informationen bekommen, wie viele Flüchtlinge jeweils an der Grenze ankommen würden, die man weiter nach Westeuropa zu bringen hatte. Die meisten Flüchtlinge hatten dem Pakistaner vorher die Reise bezahlt, dieser brachte sie zur serbisch-ungarischen Grenze.

Operation "Havala"

Und er übermittelte auch dem Kecskemeter Afghanen Geld für den Kauf von Lastwagen und Bezahlung der Chauffeure. Wenn das Geld vom Pakistaner nicht rechtzeitig kam, konnte der Afghane es in der Regel vorstrecken, weil er seit langem in Budapest im inoffiziellen Geldstransfer-Geschäft aktiv war.

"Havala" wird diese weit verbreitete Operation genannt, mittels der Geld über Wechselstuben zum Beispiel aus Afghanistan nach Europa überwiesen wird. Der Afghane hatte also leicht Zugang zum Cash, mit dem er die Schlepperaktivität zwischenfinanzieren konnte. Er war also der Mann mit dem Geld. Noch dazu war er der Einzige aus der Gruppe, der mit allen Beteiligten kommunizieren konnte: Er sprach Pashtu mit dem Pakistaner und serbisch mit seinem bulgarischen Vize, der seinerseits die zumeist aus armen bulgarischen Regionen stammenden Chauffeure koordinierte.

So kam es dazu, dass der Afghane alle Informationen über die Schleppertransporte hatte - dadurch fiel dem Afghanen eine Rolle zu, der Staatsanwalt als Position eines "Chefs" interpretierte. Die übrigen zehn Angeklagten wurden zu drei- bis 12-jährigen Haftstrafen verurteilt. Die meisten von ihnen waren simple Fahrer von Schleppertarnsporten, die, wie der Richter Jádi ausführte, in diesem Geschäft "ihre Haut zu Markte trugen", weil sie am schlechtesten bezahlt wurden - sie bekamen jeweils ein paar Hundert Euro pro Transport- und weil sie stets die ersten waren, die von der Polizei geschnappt wurden.

Polizei unter Kritik"

Wesentlich für die Ermittlungen im Fall des Todeslasters von Parndorf waren Aussagen von Fahrern, die in Deutschland oder in Österreich gefasst wurden. Die Ermittler prüften die in ihrem Handys gespeicherten Telefonnummern, stellten fest, dass es ungarische waren und leiteten dies an die ungarische Polizei weiter. So kam es dazu, dass Wochen vor der Todesfahrt die Handys der ungarischen Schlepperbande abgehört wurden.

Einer der Pflichtverteidiger in Keckskemet beanstandete auch in seinem Plädoyer für den Späher, dass die Polizei aufgrund dieser abgehörten Gespräche die Bande früher hätte dingfest machen und somit die Todesfahrt hätte verhindern können. Doch wurden diese serbisch, bulgarisch und in Pashtu geführten Telefonate erst Monate nach der Todesfahrt übersetzt - wie die damit beauftragte Dolmetscherin vor Gericht aussagte. Der zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilte Mittäter ist ein ermittlungstechnisch besonders interessanter Fall: Es ist ein Afghane mit dem Spitznamen "Kairo", der zunächst unmittelbar nach der Todesfahrt, zusammen mit der ganzen Bande, in Budapest verhaftet wurde.

Der Mann wurde kurz danach wieder freigelassen und verschwand. Erst Monate später wurde er dennoch offiziell angeklagt. Insider mutmaßen, dass "Kairo" eine Zeit lang Spitzel der Polizei innerhalb der Gruppe war. Nicht anders wäre zu erklären, weshalb Kairo in Ungarn als Asylsuchender anerkannt wurde, obwohl er vorher wegen Randale in einem Wirtshaus polizeiauffällig geworden war. Noch ist das letzte Wort in dieser erschütternden causa nicht gesprochen. Sowohl der Staatsanwalt als auch die Angeklagten wollen in Berufung gehen.