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Gedenkdienst in Nöten

Von Heinz Fischer

Politik

Es gilt sicherzustellen, dass sich auch in Zukunft die Gedenk- und Erinnerungskultur weiterentwickeln und entfalten kann.


Wien. In der Geschichte unserer Zweiten Republik gibt es zwei interessante Entwicklungslinien zum Thema "Dienst an der Gemeinschaft" (Wehrdienst) und "Aufarbeitung der NS-Vergangenheit" (Gedenk- beziehungsweise Sühnedienst), die sich schließlich in positiver Weise verknüpft haben.

Das eine ist die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht (die ich ausdrücklich bejahe) nur "mit der Waffe in der Hand" erfüllt werden kann oder ob es dazu eine moralisch und gesellschaftlich gleichwertige Alternative geben kann; das andere ist unsere Einstellung zur Verantwortung und Mitschuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten.

Was das Thema Mitschuld und Mitverantwortung betrifft, weil Österreicher im Nationalsozialismus sowohl Opfer als auch Täter waren, hat Österreich einen weiten und schwierigen Weg zurückgelegt. So sehr viele - und zwar beschämend viele - Österreicherinnen und Österreicher im März 1938 über den "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland, der mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich erzwungen wurde, gejubelt haben (während die Gegner Hitlers nicht in Erscheinung treten konnten und sich sogar verstecken oder nach Möglichkeit fliehen mussten), so sehr wollte nach dem Zusammenbruch der verbrecherischen Hitlerdiktatur und nach Millionen Kriegstoten und -Opfern des Holocaust niemand Einschlägiges gewusst haben oder gar mitverantwortlich sein.

Und die Tatsache, dass Österreich in der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 von den Außenministern der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens als das "erste Opfer Hitlers" bezeichnet wurde, machte es möglich, dass die österreichische Regierung nach 1945 lange Zeit - sogar sehr lange Zeit - den Standpunkt vertreten hat, dass wir als Opfer Hitlers keinerlei Verantwortung für die Verbrechen zu tragen haben, die zwischen März 1938 und Mai 1945 von Österreichern - die zu diesem Zeitpunkt als "Ostmärker" Angehörige des Großdeutschen Reiches waren - begangen wurden.

Sowohl Opfer als auch Täter

Erst in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hat sich nach langen und bitteren Diskussionen die Einsicht durchgesetzt, dass die Schuldfrage nicht so einfach weggeschoben werden kann und Österreicher im Lichte historischer Fakten sowohl Opfer als auch Täter waren. Diese Einsicht hat sich in den vergangenen 30 Jahren immer mehr durchgesetzt und verfestigt.

Auf einer anderen Ebene spielte sich die Diskussion ab, ob die Pflicht junger, gesunder, österreichischer Staatsbürger in Form der Wehrpflicht einen Beitrag zur Sicherheit und Unabhängigkeit unseres Landes zu leisten, auch in anderer Form als "mit der Waffe in der Hand" geleistet werden kann. Auch darüber gab es in den Achtzigerjahren intensive Diskussionen, bei denen unter anderen Andreas Maislinger eine wichtige Rolle spielte. Tatsächlich ist die damalige österreichische Regierung im Lichte dieser Diskussionen schließlich zu dem Ergebnis gelangt, dass der Zivildienst, der in der Zwischenzeit auf gesetzlicher Basis als Alternative zum Wehrdienst anerkannt wurde, auch in Form eines Gedenkdienstes geleistet werden kann, der der Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten, der Unterstützung von Opfern des Nationalsozialismus und einer moralischen Sühnegeste gewidmet ist.

In diesem Sinne wurde der Verein "Gedenkdienst" und auch der Verein "Österreichischer Auslandsdienst" gegründet, und im September 1992 trat der erste österreichische Gedenkdiener seinen Dienst im Museum Auschwitz-Birkenau an, das dem Gedenken an die Opfer des deutschen Konzentrationslagers in Auschwitz gewidmet ist.

Der Gedenkdienst stellt damit seit mehr als 25 Jahren einen aktiven und unverzichtbaren Bestandteil in der österreichischen Gedenk- und Erinnerungskultur dar. Ich habe die geschichtsvermittelnde Arbeit dieser Initiativen sowohl in meiner Zeit als Nationalratspräsident als auch als Bundespräsident nachhaltig zu schätzen gelernt und unterstützt. Die mehr als 800 jungen Frauen und Männer, die seit 1992 in die Welt hinausgegangen sind, um sich dem Gedenken und der Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten und der Aufarbeitung des Holocaust zu widmen, können in gewissem Sinne auch als junge Botschafter des heutigen Österreich gesehen werden. Mit ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit repräsentieren sie den Willen der österreichischen Gesellschaft, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und unsere gemeinsame Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Die formellen und praktischen Schwierigkeiten, mit denen die beiden Trägerorganisationen - der Verein Gedenkdienst und der Verein Österreichischer Auslandsdienst -, wie sie mir kürzlich berichtet haben, derzeit konfrontiert sind, stehen daher in deutlichem Gegensatz zu den Bemühungen Österreichs, den Willen zur Gedenk- und Erinnerungskultur sichtbar zu machen, zu verstärken und an konkreten Beispielen zu demonstrieren.

Aufgestockte Fördermittel

Kurz vor der vergangenen Nationalratswahl wurde am 12. Oktober 2017 im Nationalrat einstimmig beschlossen, die Fördermittel für den Gedenk-, Friedens- und Sozialdienst im Ausland von 720.000 Euro auf 1,2 Millionen Euro aufzustocken. Die Erhöhung sollte insbesondere zur Abgeltung von Aufwendungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (wie Reisekosten, Versicherungen, Impfungen etc.) vorgesehen werden. Außerdem sollte die Möglichkeit geschaffen werden, den Trägerorganisationen zusätzliche Mittel für Informations- und Aufklärungsarbeit über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu gewähren. Dies wurde als eindeutiges und unmissverständliches Zeichen für den Erhalt und den qualitativen Ausbau der Gedenk- und Erinnerungsarbeit der beiden Vereine verstanden.

Die momentane Situation gibt jedoch Anlass zur Sorge. Die Anzahl der Einsatzstellen weiter zu erhöhen, wäre zwar sehr begrüßenswert, jedoch darf dies nicht auf dem Rücken der momentanen Gedenkdienstleistenden geschehen. Die Entschädigung, die junge Frauen oder junge Männer erhalten, die sich dafür entscheiden, einen Gedenk-, Friedens- oder Sozialdienst im Ausland zu absolvieren, darf nicht so niedrig sein, dass dies auf eine unausgesprochene, aber wirksame Abschreckung vor dem Gedenkdienst hinausläuft.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass durch die weltweiten Einsatzstellen sehr unterschiedliche Kosten für die Gedenkdienstleistenden entstehen. So macht es beispielsweise in der Kostenrechnung einen Unterschied, ob der Gedenkdienst an der Internationalen Jugendbegegnungsstätte im ehemaligen Ghetto Theresienstadt, also einige hundert Kilometer von Wien oder Linz entfernt, oder in Lateinamerika geleistet wird. Explodierende Mieten, teure Flüge und hohe Visaraten sind nur einige Aufwendungen, die sich mit 520 Euro pro Monat nach Abzug der Versicherungskosten kaum decken lassen.

Kürzlich habe ich mir in einem Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern des Vereins Gedenkdienst und des Vereins Österreichischer Auslandsdienst einen Überblick über die momentane Entwicklung in dieser Causa verschafft: Jede der mehr als 60 weltweiten Einsatzstellen bildet einen Baustein der österreichischen Gedenkkultur. Angefangen von dem jüdischen Altersheim am Rande von Buenos Aires, wo sich junge Österreicher gemeinsam mit deutschen Freiwilligen fürsorglich um jüdische Emigranten und ihre Nachkommen kümmern, bis hin zu der Internationalen Jugendbegegnungsstätte im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo österreichische Jugendliche sich in langwieriger pädagogischer Arbeit aneignen, Jugendgruppen die Thematik des Holocaust näherzubringen, reicht die Palette der Aktivitäten.

Diese historisch wichtige Arbeit der jungen Österreicherinnen und Österreicher muss gesellschaftlich, politisch und vor allem finanziell anerkannt werden. Es gilt sicherzustellen, dass sich auch in Zukunft die Gedenk- und Erinnerungskultur weiterentwickeln und entfalten kann.

Ich hoffe sehr, dass die gemeinsamen Auffassungen, die zu diesem Thema in den vergangenen Jahren erzielt wurden, aufrecht bleiben und alle Beteiligten in konstruktiven Gesprächen zukunftstaugliche Lösungen suchen und auch finden werden, um die wertvolle Idee des Gedenkdienstes in sinnvoller Weise lebendig zu erhalten.

Heinz Fischer wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident. Davor war er ab 1971 Abgeordneter der SPÖ zum Nationalrat (ab 1975 Klubobmann), von 1983 bis 1987 Wissenschaftsminister und von 1990 bis 2004 zunächst Erster und dann Zweiter Nationalratspräsident.