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"Hartz IV macht Familien arm"

Von Martina Madner

Politik

Der Sozialstaatsexperte Gerhard Bäcker zu den Folgen des deutschen Arbeitslosen- und Sozialhilfe-Modells.


Wien. Die Reform der Mindestsicherung steht laut Regierung vor der "Endabstimmung", jene von Arbeitslosengeld soll 2019 folgen. Einhelliger Tenor bei einer Tagung der Armutskonferenz war allerdings, dass ein gesamtheitliches Modell, ohne zu kürzen, sinnvoll wäre. Ein Abschaffen der Notstandshilfe ähnlich dem deutschen Hartz-IV-Modell würde zudem "die untere Mittelschicht unter Druck setzen". Warum, erklärt Gerhard Bäcker, Seniorprofessor am Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen.

"Wiener Zeitung": Hartz IV in Deutschland wurde ja nicht dafür geschaffen, um Leute in Armut zu drängen. Welche Intention steckte tatsächlich hinter der Reform von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld?

Gerhard Bäcker: Man wollte 2005 vor allem die damals sehr hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland beseitigen. Es ging nicht um ein fiskalisches Ziel, auch nicht darum, Armutslagen zu verändern. Dahinter stand die Grundidee, dass Arbeitsmarktprobleme, vor allem verhärtete, nicht die Folge makroökonomischer Probleme wie der konjunkturellen Entwicklungen oder der Integration der ostdeutschen Bundesländer nach der Wiedervereinigung seien, sondern ein Problem des Verhaltens. Die Ursache wären also nicht die Verhältnisse, sondern das Verhalten der Arbeitslosen, die nicht fähig oder nicht willens seien, zu arbeiten. Es herrschte damals die Devise: Jede Arbeit ist besser als keine. Hartz IV sollte den Druck oder Zwang, jede Arbeit anzunehmen, erhöhen.

Was hat sich mit Hartz IV gesetzlich verändert?

Man hat die vormalige Arbeitslosenhilfe, die mit der österreichischen Notstandshilfe vergleichbar war, ersatzlos abgeschafft und in die Sozialhilfe, nun Grundsicherung, überführt. Soll heißen, Menschen werden nach höchstens zwölf Monaten Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung von einem Tag auf den anderen auf ein sehr niedriges Leistungsniveau herabgestuft. Jegliche Arbeit, sofern sie nicht gesetzeswidrig ist, wurde als zumutbar erklärt. Zwölf Monate erreicht man nur, wenn man in den zwei zurückliegenden Jahren mindestens ein Jahr lang Beiträge bezahlt hat.

Wozu hat das geführt?

Ziel der damaligen rot-grünen Bundesregierung war es - und das hat Bundeskanzler Gerhard Schröder explizit so formuliert -, einen breiten Niedriglohnsektor zu schaffen, in dem Menschen dazu gezwungen sind, egal unter welchen Umständen, einen Job anzunehmen. Das ist auch geglückt, der Niedriglohnsektor ist rasant auf 28 Prozent der Erwerbstätigen gewachsen, mit Leiharbeitern, befristeter Beschäftigung, sogenannten Minijobs. Rund zwei Drittel aller Arbeitslosen sind heute, also 2017, im Hartz-IV-Sektor. Das heißt, die Arbeitslosenversicherung, die sich am Entgelt davor orientiert und wo es einen Einkommensschutz gibt, hat nur noch eine Randbedeutung.

Minijobs, Leiharbeit, befristete Beschäftigung - kurbelte das nicht auch die Wirtschaft an?

Möglichst preiswert und schnell an Arbeitskräfte zu kommen liegt zwar im kurzfristigen Interesse der Wirtschaft, ob das langfristig sinnvoll ist, ist zu bezweifeln. In der exportorientierten Industrie gibt es solche Arbeit auch weniger. Liefer- und Bringdienste, die Gastronomie oder der Handel setzen sehr stark darauf. Diese Jobs waren als Sprungbrett gedacht, in denen man nur kurzfristig verweilt und dann nach oben schnellt. Dieser Wunsch hat sich aber nicht erfüllt. Empirische Befunde zeigen, einmal in diesen Jobs bedeutet, immer in diesen Jobs. Deshalb ist das gesamtökonomisch gesehen eine Vergeudung von Humankapital.

Wie kommt es, dass Minijob nicht das erhoffte Sprungbrett sind?

Wer im Monat nicht mehr als 450 Euro verdient, braucht keine Sozialversicherung und Steuern zu bezahlen, Brutto- ist also Netto-Einkommen. Das ist für Ehefrauen als Zubrot interessant, sie haben aber kein Entwicklungspotenzial. Diese Jobs sind eine Sackgasse. Wer die 450 Euro überschreitet, hat erst mal weniger Verdienst, es ist also ökonomisch sinnlos, das zu machen. Es werden auch keine Pensionsansprüche erworben, man hat keine Krankenversicherung. Damit wird das Hausfrauenmodell mit Zuverdienst gestützt, eine gläserne Decke, unter der die Frauen bleiben.

Was bedeutet das nun für die Menschen im Hartz-IV-System?

Die Arbeitslosenhilfe war zwar auch einkommensgeprüft, sie war aber nicht bedürftigkeitsgeprüft, Vermögen wurden also nicht angerechnet. Das Kernproblem von Hartz IV ist, dass auch langjährige Beitragszahler aus der mittleren Arbeiter- und Angestelltenschicht nach höchsten einem Jahr jenen gleichgestellt werden, die noch nie eingezahlt haben. Der Vertrauensverlust der SPD rührt zwar nicht ausschließlich, aber auch daher, dass sich in der Kernklientel enorme Angst breitgemacht hat, den Arbeitsplatz zu verlieren und ins Bodenlose zu fallen, wenn man seinen Verpflichtungen, zum Beispiel Kreditzahlungen für ein Haus, nicht mehr nachkommen kann. In der Mitte der Gesellschaft herrschten nun Abstiegs- und Verlustängste und ein Vertrauensverlust in den Sozialstaat vor.

Sind diese Sorgen berechtigt?

Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland massiv gesunken. Aber um den Mythos gleich auszuräumen: nicht wegen, sondern trotz Hartz IV. Die Ängste sind zum Teil nur gefühlte. Menschen in der Industrie haben ihre Arbeit wegen der besseren Konjunktur, Exporterfolgen und Leistungsbilanzüberschüssen Deutschlands nicht verloren. Massenentlassungen gibt es heute nicht, weil die deutsche Konjunktur brummt und brummt und brummt. Aber zurück zur Frage: Jemand, der arbeitslos wird und schlechte Voraussetzungen hat, weil er älter oder gesundheitlich beeinträchtigt ist, fällt in der Tat sehr schnell auf das Hartz-IV-Niveau. Jüngere Arbeitslose schaffen es heute aber noch, wieder in Beschäftigung zu kommen.

Aber ist Hartz IV nicht auch ein
Arbeitsanreiz?

Die Hartz-IV-Bezieher werden nicht weniger, wir haben konstant sechs Millionen, darunter auch Kinder. Wenn Arbeitslosigkeit an Faulheit oder fehlenden Anreizen läge, wie erklärt man dann, dass in Gelsenkirchen im Ruhrgebiet 25 Prozent, in Ingolstadt bei München aber weniger als drei Prozent Hartz IV beziehen. Sind die Menschen in Gelsenkirchen fauler als die Ingolstädter? Oder sind die Verhältnisse andere? Die Annahme, dass Arbeitslosigkeit vor allem ein Verhaltensproblem ist, war von vorne herein schon falsch - und das gilt bis heute.

Wie wirkt Hartz IV auf Familien?.

Kurzfristig sind die Auswirkungen begrenzt. Problematisch wird es aber, wenn es zum Langzeitbezug kommt. Hartz IV macht Familien einkommensarm - und sie bleiben das auch. Es kommt am Arbeitsmarkt zu erheblichen Vermittlungsproblemen, zu weniger sozialer Teilhabe. Darunter sind auch im überproportionalem Ausmaß Menschen mit ausländischem Pass, die es ohnehin viel schwerer haben, Arbeit zu finden, was auch zu Akzeptanzproblemen dieser führt. Auf Hartz IV über Jahre folgt zwingend Altersarmut. Problematisch ist es auch für Kinder, insbesondere von alleinerziehenden Müttern, wo die Armutsquote mit 35 Prozent in Deutschland besonders hoch ist.

Warum hat man Hartz IV nicht wieder abgeschafft?

Das ist unrealistisch, also stellt sich die Frage: Wo ist Reformbedarf? Und es hat sich auch etwas getan: Das Bundesverfassungsgericht hat das Leistungsniveau als zu niedrig befunden, insbesondere die Leistung für Kinder. Die Bundesregierung hat deshalb Gutscheine für diese geschaffen, zum Beispiel für Musikunterricht. Das wird allerdings wenig in Anspruch genommen, weil man sie nur über ein aufwendiges Verfahren bekommt. Auch der Bezug des Arbeitslosengeldes für Ältere wurde verlängert und 2015 nach langem Ringen und Würgen, der Mindestlohn eingeführt. Das setzt dem Wachsen des Niedriglohnsektors zumindest gewisse Schranken. Man müsste aber wieder für mehr Menschen die Arbeitslosenversicherung öffnen, den Bezug verlängern und die Voraussetzungen erleichtern. Wir brauchen eine Vereinheitlichung der Fördermaßnahmen, heute gibt es mehr nachhaltige Förderungen für jene mit Versicherungsleistung.

Ist das nicht unlogisch, dass jene, die kürzer arbeitslos sind, nachhaltiger gefördert werden?

Absolut, das ist Creaming-the- Poor, also ein Abtragen der oberen Schicht, während die anderen vernachlässigt werden, weil das aufwendiger und weniger erfolgsversprechend ist. Es ist eine Absicherung erster und zweiter Klasse.