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Dem Judenhass war kein Gräuelmärchen zu blöd

Von Clemens M. Hutter

Politik

Höhepunkt permanenter Hetze drei Jahrzehnte vor dem Holocaust waren die raffiniert gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion".


Im Klima aggressiven Judenhasses entstand 1905 eine der übelsten Fälschungen der Geschichte: "Die Protokolle der Weisen von Zion", deren anonyme Autoren nicht nur vorgaben, die Weltverschwörung des Judentums zu beweisen, sondern auch bis heute alle Vorurteile der Antisemiten und Verschwörungstheoretiker stützen. Und sie behaupteten, die "Protokolle" von 24 Geheimkonferenzen jüdischer Verschwörer und damit die Methoden entdeckt zu haben, wie Juden mit Verschlagenheit, Gewalt und "allumfassendem Terror" die Weltherrschaft an sich reißen wollten - mit "List, Heuchelei, Bestechung, Betrug und Verrat", denn "alles, was dem Volke Juda nützt, ist moralisch und heilig".

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich in Europa antisemitische Übergriffe, Pöbeleien und Beleidigungen verdreifacht. Und abermals nutzen die neuen Antisemiten uralte Vorurteile zur Diffamierung der Juden. Seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert beschrieben griechische und römische Literaten die Juden als "ekelerregendes Volk", das Krankheiten verbreite und den Göttern verhasst sei. Tacitus nannte die Juden "Feinde der Menschheit", die absurde Riten feiern würden und aus Faulheit den arbeitsfreien Sabbat eingeführt hätten. Später verurteilte das Christentum die Juden wegen der Kreuzigung Jesu pauschal als "Volk der Gottesmörder". Die Pestepidemien im Mittelalter schob man jüdischen Brunnenvergiftern in die Schuhe, ebenso Ritualmorde an christlichen Kindern, um deren reines Blut zu trinken.

Ab dem 9. Jahrhundert wurden die Juden aus den meisten Berufen in jene abgedrängt, die wie Trödelhandel, Pfandleihe und Geldverleih als verächtlich galten. Es folgte die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden in Ghettos. Spanien führte um 1450 den Begriff "Reinheit des Blutes" ein, das Christen hätten, Juden aber nicht, und vertrieb 40 Jahre später alle Juden. Martin Luther forderte 1543 in seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" die Zerstörung der Synagogen sowie jüdischer Wohnungen und die Vertreibung der Juden, denn sie seien von Natur aus "Parasiten und Verschwörer". Papst Paul IV. ordnete 1555 an, dass Juden diskriminierende Kennzeichen tragen mussten.

"Moralisch minderwertig"

Aus der langen Reihe aggressiver Antisemiten sticht Wilhelm Marr hervor. In seinem Bestseller "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" behauptete er 1879, Juden wären wegen ihrer Rasse "moralisch minderwertig" und würden daher "die deutsche Rasse gefährden". Marr stützte sich auf Joseph de Gobineaus 1855 erschienen "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen": Der kulturell hochstehenden arischen Rasse gebühre der Vorrang vor den "niederen Rassen" wie den Juden, die zu Knechtschaft verdammt seien. Houston Stewart Chamberlain ging 1899 den entscheidenden Schritt weiter. In seinen "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" behauptete er, dass die gierigen, dämonischen und geistig verkümmerten Juden ein Attentat auf alle Völker der Erde planten, um die Weltherrschaft zu erringen.

Die "Protokolle der Weisen von Zion" sind eine psychologisch raffinierte Fälschung, gemixt aus diversen Publikationen. So aus dem 1864 anonym und ohne Hinweis auf Juden veröffentlichten satirischen "Dialog in der Hölle zwischen Machiavelli und Montesquieu" des Franzose Maurice Joly. Dann aus der Fantasterei eines Deutschen von 1868 in dem absurden Roman "Biarritz", wie die Delegierten der zwölf Stämme Israels auf dem jüdischen Friedhof in Prag die Eroberung der Welt beraten. Daraus bastelte der russische Geheimdienst Ochrana die "Protokolle", um dem abergläubischen Zaren Nikolaus II. zu beweisen, dass jüdische Verschwörer eben erst die in Russland gescheiterte Revolution ferngesteuert sowie Japan zum Sieg über die russische Kriegsflotte verholfen hätten und nun Russlands christliche Monarchie stürzen wollten.

In den angeblichen "Protokollen" wurde verlangt, einflussreiche Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft hinterlistig so zu manipulieren, dass sie als "nützliche Idioten" dem Ziel der Juden dienen würden. Überdies müsse man Zeitungsverlage unterwandern, um das Geistesleben zu beherrschen und die verelendenden Massen gegen Liberalismus und Kapitalismus aufzuputschen.

Dass diese Methoden Erfolg versprechen würden, erläuterten die "Protokolle" am bisher größten Erfolg jüdischer Verschwörer: "Unsere geheimen Agenten" hätten einst "ganze Legionen" mit der Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" mobilisiert. So habe "der Druck des Pöbels" in der Französischen Revolution die Grundlagen nichtjüdischer Staaten zerstört: "Wir werden dem Arbeiter als Befreier von Unterdrückung erscheinen, indem wir ihm vorschlagen, in die Reihen unserer Armeen von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten einzutreten. Wir fördern diese Gruppen stets, indem wir den Anschein erwecken, dass wir ihnen mit Brüderlichkeit und Humanität helfen wollen. Der Kriegsplan unserer unsichtbaren Macht wird der Welt immer unbekannt bleiben."

"Den Weltkrieg entfesseln"

Die "Protokolle" nannten auch unverblümt ihre Strategie: Zerstörung der Industrie der Nichtjuden durch Spekulation und deren Gier nach Luxus, indem man sich allen Goldes bemächtige, Börsenkrachs auslöse, die Zahlungsmittel verknappe und damit Regierungen nötige, "sich über Staatsanleihen bei den Juden zu verschulden". Sollten aber die Regierungen diese Verschwörung aufdecken und sich den Juden mit Waffen entgegenstellen, dann "haben wir ein letztes fürchterliches Mittel, vor dem selbst die tapfersten Herzen erzittern: Bald werden in allen Hauptstädten Untergrundbahnen gebaut sein; von dort aus werden wir alle Städte in die Luft sprengen." Würden nichtjüdische Staaten Widerstand leisten, "dann müssen wir den Weltkrieg entfesseln". Der entscheidende Vorteil dieser Strategie: "Die Gnade Gottes hat uns, sein auserwähltes Volk, über die ganze Welt zerstreut. In dieser scheinbaren Schwäche unserer Rasse liegt unsere ganze Kraft, die uns heute an die Schwelle der Weltherrschaft geführt hat."

Ab 1920 überschwemmten Übersetzungen der "Protokolle" Europa und die USA - ein gefundenes Fressen für alle Antisemiten. Den publizistischen Erfolg hemmte selbst der mehrfache Nachweis einer gigantischen Fälschung nicht. Im Gegenteil: 1929 erwarb die deutsche Nazipartei das Copyright für die "Protokolle" und warf sie in 40 Auflagen auf den Markt. Dass Gerichte ab 1924 u. a. in Deutschland die "Protokolle" als Plagiat und Schund verurteilten, werteten die Nazis als Beweis, dass jüdische Verschwörer die Justiz durchsetzt hätten.

1923 schrieb der noch kaum bekannte Agitator Adolf Hitler: "Das Judentum bedeutet Rassentuberkulose der Völker. Wenn ich einmal wirklich an der Macht bin, wird die Vernichtung der Juden meine erste und wichtigste Aufgabe sein." Zwei Jahrzehnte später wurden in Hitlers Vernichtungslagern sechs Millionen Juden ermordet.

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