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Das autoritäre Brasilien säubert das Land

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

Bolsonaro hat das Präsidenten-Amt noch nicht angetreten, da ist Brasilien bereits wie verwandelt.


Rio de Janeiro. Er traut sich nicht mehr aus dem Haus, verlässt seine Wohnung nur noch zu offiziellen Terminen. Rund um die Uhr wird er von drei Leibwächtern beschützt. Wenn er auf die Straße geht, brüllt trotzdem immer irgendeiner: "Schwuchtel, hau ab!" oder "Kommunistensau". Hunderte von Morddrohungen hat er in den vergangenen Wochen erhalten, die Sicherheitsdienste sagen, dass sie ernst zu nehmen sind.

"Ich fühle mich wie im Gefängnis", sagt Jean Wyllys. Der 44-Jährige ist Abgeordneter im brasilianischen Parlament, vertritt dort den Bundesstaat Rio de Janeiro. Er ist der einzige bekennende Homosexuelle der 513 Volksvertreter. Und der Lieblingsfeind des künftigen brasilianischen Präsidenten, Jair Bolsonaro. Der hat ihn über Jahre hinweg beschimpft und als "Schwuchtel" verspottet. Im Gegenzug hat der linke Wyllys das künftige Staatsoberhaupt als "Faschisten" und seine Anhänger als "Hirnlose" bezeichnet. Die Feindschaft zwischen Jean Wyllys und Jair Bolsonaro steht exemplarisch für die Radikalisierung Brasiliens.

Das Land galt einst als tolerant und gelassen, erlebt nun aber eine Welle von Intoleranz und Aggressivität. Dabei zeigt sich immer wieder, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist. Ein über Twitter geteiltes Video, wenige Tage alt: Polizisten in Rio de Janeiro schmeißen die Kadaver zweier junger Männer auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks. Es handelt sich offenbar um Kriminelle, die sie gerade erschossen haben. Darum herum stehen Schaulustige und applaudieren. Das Video wird auch von einem rechten Parlamentsabgeordneten verbreitet, der kommentiert: "Die Säuberung muss gemacht werden." Er gehört zu Bolsonaros Sozialliberaler Partei. Ganz oben auf deren Programm: Polizisten sollen einen Freibrief zum Töten bekommen.

"Ich habe Angst vor dem,was auf uns zukommt"

Bolsonaro verkörpert die Radikalisierung seines Landes wie kein anderer. Der Ex-Militär wurde Ende Oktober mit 55 Prozent der Stimmen zum nächsten Präsidenten Brasiliens gewählt. Zuvor war er 27 Jahre lang Abgeordneter ohne bemerkenswerte Verdienste - seine Bekanntheit erlangte er durch verbale Ausfälle, die ihm in Europa Prozesse wegen Anstachelung zur Gewalt einbringen würden. In Brasilien aber zieht er mit 1. Jänner 2019 in den Präsidentenpalast ein, weil er einen Wandel versprochen hat. Er sagt, dass er Schluss machen werde mit der Korruption im Parlament und der Kriminalität auf der Straße. Und er will wieder Ordnung in eine Gesellschaft bringen, die in den Augen vieler Brasilianer aus den Fugen geraten ist. Zur Unordnung gehören dabei auch die zunehmende Sichtbarkeit und der Einfluss von Schwulen. Von Männern wie Jean Wyllys. "Ich habe Angst vor dem, was da auf uns zukommt", sagt Wyllys.

Denn unter der Oberfläche von Fußball, Samba und Karneval ist ein anderes Brasilien hervorgetreten. Es ist autoritär, religiös-fundamentalistisch und ignorant. Und für Menschen wie Wyllys lebensgefährlich. Einige Situationen verdeutlichen, wie sehr sich die Stimmung bereits vor dem Amtsantritt Bolsonaros am 1. Jänner verändert hat.

In den Kinos buht das Publikum, wenn im Film "Bohemian Rhapsody" gezeigt wird, dass Freddie Mercury schwul war. Wissenschafter und Lehrer sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie indoktrinierten ihre Schüler mit linkem Gedankengut. Kurz vor der Wahl drangen Polizisten in brasilianische Universitäten ein, beschlagnahmten Banner gegen den Faschismus und untersagten Diskussionsveranstaltungen. Sie nahmen Unterlagen von Dozenten mit und fotografierten Studenten. Künstler wiederum bezeichnet Bolsonaro als "unnützes Pack", das nur Fördergelder abgriffe. Er hat deshalb einen "großen Kulturwandel" angekündigt. Tatsächlich findet dieser bereits statt: Ausstellungen mit angeblich blasphemischer Kunst werden abgesagt und Performance-Künstler als "Dreckschweine" beschimpft, weil sie menschliche Nacktheit thematisieren. Bolsonaro nennt das "Pädophilie im Namen der Kultur" - und das christlich-konservative Brasilien applaudiert.

Schwarz, links, bisexuell- und ermordet

Jean Wyllys schien einmal ein sehr beliebter Politiker zu sein. Im Parlament sitzt er seit 2011. Zweimal wählten Leser der Website "Kongress im Fokus" ihn zum besten Volksvertreter Brasiliens. 2015 nahm ihn der britische "Economist" sogar in die Liste der 50 wichtigsten Vorkämpfer für Vielfalt und Toleranz auf. Auch auf der Liste: Barack Obama und der Dalai Lama. Und nun? Fühlt Jean Wyllys sich wie unter Hausarrest.

Drei Personenschützer passen rund um die Uhr auf ihn auf. Sie wurden ihm im März vom brasilianischen Parlamentspräsidenten zugeteilt, nachdem die linke Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro mit vier Kopfschüssen getötet worden war.

Die 38-Jährige gehörte wie Wyllys zur kleinen linken Partei Sozialismus und Freiheit - auch Franco war schwarz, bisexuell und stammte aus einer der vielen Favelas von Rio, für deren Bewohner sie sich einsetzte. Bis heute ist nicht klar, wer Marielle Francos Mörder sind. Aber sie werden im Umfeld rechter Milizen vermutet, die Verbindungen in Rios Sicherheitsapparat haben. Jean Wyllys, schlossen die Ermittler, steht auch auf ihrer Abschussliste. Er ist in akuter Gefahr. Denn mittlerweile zirkulieren dutzende Lügen über Wyllys im Netz: Wyllys sei für die Pädophilie. Wyllys schlage vor, Teile der Bibel verbieten zu lassen. Wyllys will Kindern in der Schule das Schwulsein beibringen. "Nichts davon stimmt, aber irgendwas bleibt natürlich immer hängen", sagt Wyllys.