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Poroschenko verhängt das Kriegsrecht

Von Thomas Seifert

Politik

Die Eskalation im Asowschen Meer kam nicht unerwartet. Doch welches Kalkül treibt die Konfliktparteien?


Kiew. Fast hätte man ihn in der Europäischen Union vergessen, den Krieg im Osten der Ukraine. Und auch in Kiew oder Lemberg ist nichts davon zu spüren, dass im Osten des Landes jeden Tag Schüsse fallen und Granaten diesseits und jenseits der sogenannten Kontaktlinie einschlagen. Seit 2014 haben mehr als 10.000 Menschen in diesem Konflikt ihr Leben verloren, im Jahr 2017 starb im Schnitt alle drei Tage ein ukrainischer Soldat.

Die Lage in der Ostukraine ist für Nicht-Experten nur schwer zu durchschauen: Während sich in der Nähe der Stadt Awdiiwka ukrainische Soldaten und Kämpfer der Separatisten, die sich am Flughafengelände von Donezk eingegraben haben, jeden Tag Gefechte liefern, passieren nur ein paar Kilometer weiter nördlich - bei Horliwka - Zivilisten jeden Tag die Kontrollposten der einander feindlich gegenüberstehenden Truppen.

Immerhin kann man sich im Konflikt in der Ostukraine auch damit trösten, dass Moskau eine allzu offensichtliche Verwicklung stets vermieden hat: Zwei (völkerrechtlich nicht anerkannte) Entitäten - nämlich die Volksrepublik Donezk sowie die Volksrepublik Luhansk - treten gegenüber Kiew auf. Eine direkte Konfrontation zwischen Moskau und Kiew gibt es somit - zumindest auf dem Papier - nicht.

De facto ist die Lage freilich völlig anders: Diese beiden Entitäten wären ohne die direkte und unmittelbare Hilfe aus Moskau weder wirtschaftlich überlebensfähig noch militärisch handlungsfähig.

Risiko der Eskalation

Die Lage im Asowschen Meer ist aber auch in der Papierform brisanter: Denn hier geht es um eine direkte Konfrontation zwischen Moskau und Kiew. Daher ließ der Zwischenfall in der Straße von Kertsch die Alarmglocken im UN-Sicherheitsrat und wohl auch in den Hauptstädten der EU schrillen. Moskau ist militärisch in jedem Fall in der Lage, die östlich der Krim gelegenen ukrainischen Küstengebiete de facto von einem freien Zugang zum Schwarzen Meer abzuschneiden. Das militärische und politische Risiko dieser Aktion wäre fürs Erste überschaubar, während die ökonomischen Folgen - vor allem für die wichtige ukrainische Hafenstadt Mariupol - gravierend wären. Die Separatisten würden Mariupol gerne unter ihre Kontrolle bekommen und das Asowsche Meer bietet dem Kreml eine weitere willkommene Stellschraube, mit der sich der Eskalationsgrad im Konflikt mit Kiew regulieren lässt. Die Ukraine befürchtet schon seit einiger Zeit, dass Moskau diese Karte ziehen könnte. Russland wiederum wirft in der jüngsten Krise in der Straße von Kertsch der Ukraine vor, man habe lediglich auf "Provokationen" Kiews reagiert.

Konkret ging es darum, dass die russische Marine drei ukrainische Boote festgesetzt hat. Russland wirft den Besatzungen vor, sie seien "illegal" in russische Hoheitsgewässer eingedrungen und hätten dort "provokante Akte" gesetzt. Nach Darstellung der ukrainischen Seite sollten die Artillerieboote "Nikopol", "Berdyansk" und "Yani Kapu" am 23. November von Odessa aus nach Mariupol verlegt werden. Am 24. November seien die Boote dann von der russischen Marine davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die Straße von Kertsch gesperrt sei - was vom International Centre for Navigation Control in Spanien allerdings nicht bestätigt wurde. Dann sei es nach Darstellung der ukrainischen Marine am 25. November gegen 8.30 oder 9 Uhr zu einem Ramm-Manöver eines russischen Küstenwacheschiffs gegen die "Yani Kapu" gekommen, die dabei beschädigt wurde.

Am Sonntagabend kam es dann zu einem Schusswechsel, bei dem die ukrainischen Boote "Berdyansk" and "Nikopol" beschädigt wurden, mindestens sechs Matrosen wurden verletzt.

Das Kalkül der Konfliktparteien

Das Risiko zu einer Eskalation sollte nicht unterschätzt werden: Denn Kiew ist nicht bereit, die Annexion der Krim durch Russland zu akzeptieren, und pocht zudem mit den versuchten Schiffspassagen durch die Straße von Kertsch darauf, dass Moskau den Seerechtsvertrag von 2003 achtet, in dem eine gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres vereinbart wurde. An diesem Vertrag hat sich auch mit der Annexion der Krim nichts geändert. Die innenpolitische Lage in Moskau und Kiew könnte eine Eskalation durchaus attraktiv erscheinen lassen: Russlands Präsident Wladimir Putin steht wegen seines Spar- und Sanierungskurses in der Kritik. Der derzeitige niedrige Ölpreis (60,62 Dollar pro Barrel) schränkt den Handlungsspielraum Moskaus deutlich ein - ein Gegner von außen könnte manchen Kreml-Planern also durchaus willkommen sein. Andererseits: Die derzeitige wirtschaftliche Schwäche Moskaus könnte den Appetit auf militärische Abenteuer und eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zur EU auch zügeln.

Dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko wiederum stehen kommendes Jahr Wahlen ins Haus. Poroschenko setzt bereits jetzt in seinem anlaufenden Wahlkampf voll auf Patriotismus und nationale Sicherheit, eine Eskalation könnte seiner politischen Strategie nützen. In den derzeitigen Umfragen werden auch der früheren Premierministerin Julia Timoschenko Chancen auf das Präsidentenamt eingeräumt. Die jetzt erfolgte Ausrufung des Kriegsrechts für 30 Tage ist nicht zuletzt vor diesem Hintergrund zu sehen. Denn nach diesem Erlass, dem das Parlament am Montagabend zugestimmt hat, sollen nicht nur die militärischen und propagandistischen Abwehrmaßnahmen verstärkt werden, sondern es wären auch die Wahlen von diesem Erlass betroffen. Die für 31. März geplanten Präsidentenwahlen könnten sogar verschoben werden.

Kirchenangelegenheiten

Die jetzige Konfrontation kam auch nicht aus heiterem Himmel: Vor einigen Wochen errang die Ukraine einen wichtigen symbolischen Sieg gegenüber Russland. Die orthodoxe Kirche in der Ukraine - die seit 1686 den russischen Patriarchen folgte - brach mit Moskau, der für derartige Kirchenangelegenheiten zuständige Patriarch von Konstantinopel, Bartholomew I., erklärte in einem Spruch, dass die orthodoxe Kirche in der Ukraine nun dem Patriarchen von Kiew folgen solle.

Zudem haben beide Seiten einander zuletzt mit Sanktionen eingedeckt: Erst vor drei Wochen hat der russische Premierminister Dimitri Medwedew die Vermögen von 322 Ukrainern (darunter auch Olexiy Poroschenko, Sohn von Präsident Petro Poroschenko) eingefroren - insgesamt sind 68 ukrainische Unternehmen von Sanktionen betroffen.

Wissen

Die Straße von Kertsch vor der von Russland annektierten Halbinsel Krim ist für Moskau und Kiew von größter strategischer Bedeutung. Die Meerenge zwischen der Krim und Russland ist die einzige Verbindung zwischen dem Schwarzen Meer und dem nördlich gelegenen Asowschen Meer.

Es handelt sich um eine wichtige Passage für Schiffe mit ukrainischen Metallindustrie-Exporten. Denn am Asowschen Meer liegt unter anderem die Hafenstadt Mariupol - die letzte noch von Kiew kontrollierte große Stadt im Osten der Ukraine und ein wichtiger Industriestandort.

Eine Regelung zur Nutzung gibt es zwar, doch stammt sie aus dem Jahr 2003. Damals haben Russland und die Ukraine das Asowsche Meer in einem Vertrag zu einem gemeinsam genutzten Territorialgewässer erklärt. Das flache Binnenmeer ist mit 39.000 Quadratkilometern etwas kleiner als die Schweiz. Die Seegrenze sollte extra festgelegt werden.

Handels- wie Kriegsschiffe beider Länder dürfen laut Vertrag das Asowsche Meer und die Meerenge frei benutzen. Handelsschiffe anderer Staaten können ukrainische und russische Häfen anlaufen. Für Besuche ausländischer Marineschiffe in einem Land ist aber die Zustimmung des jeweils anderen Staates erforderlich.

Komplizierter wurde die Lage 2014, nach der Annexion der Krim durch Russland. Davor hat es mehrere Lotsendienste gegeben, derzeit funktioniert nur noch ein russischer Dienst im Hafen von Kertsch auf der Krim.

Mit der Eröffnung der neuen, 19 Kilometer langen Brücke auf die Krim hat Russland den Zugriff auf das Nadelöhr der Schifffahrt ausgedehnt. Auch kleinere Schiffe dürfen jetzt nur mit russischen Lotsen passieren.

So werfen Kiew und westliche Staaten Moskau vor, den Schiffsverkehr absichtlich zu behindern. Hinzu kommt, dass die Fertigstellung der Brücke über die Meerenge nach Angaben der Hafenleitung von Mariupol die Durchfahrt großer Schiffe erschwert. Außerdem stoppt die russische Küstenwache seit diesem Jahr Frachter - offiziellen Informationen zufolge für Kontrollen.

Nach ukrainischen Angaben sind hunderte Schiffe, die Häfen in der Ukraine anlaufen wollten, über Tage oder Stunden festgehalten worden. Die Ukraine hat russische Fischkutter von der Krim festgesetzt, weil sie deren Heimathäfen als ihr Staatsgebiet ansieht. Moskau zog mit gleichen Maßnahmen nach.

Auch militärisch nahmen die Spannungen zu. So verlegte die russische Marine im Mai fünf Kriegsschiffe vom Kaspischen in das Asowsche Meer.