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Vorwärts in die Vergangenheit

Von Gerhard Lechner

Politik

Der INF-Vertrag zwischen Russland und den USA steht vor dem Aus. Kehrt nun die atomaren Bedrohung zurück?


Moskau/Washington. Trotz Fönfrisur, Vokuhila, Jogging High und Schulterpolstern: Mit den 1980er Jahren verbinden viele nostalgische Gefühle. Im Gegensatz zur neuen Unübersichtlichkeit im Zeichen der Globalisierung waren die Fronten klar und die Wirtschaftslage stabil. Zwar hing spätestens seit der Aufstellung von Mittelstreckenraketen in Europa das Damoklesschwert der nuklearen Vernichtung über dem Kontinent. Schließlich kam mit der Entspannungspolitik des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow dann aber doch noch alles ins Lot: 1987 wurde zwischen der UdSSR und den USA der INF-Vertrag abgeschlossen, in dem sich beide Vertragsparteien verpflichteten, auf den Bau, das Testen und den Besitz von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern zu verzichten.

Dieser Vertrag steht nun vor seinem Aus. Denn Russland, als Rechtsnachfolger der Sowjetunion Vertragspartei, lehnt das Ultimatum von 60 Tagen, das ihm die Nato unter Anleitung Washingtons gesetzt hat, ab. Das Präsidialamt im Kreml erklärte, die USA würden die Fakten manipulieren, um selbst aus dem Vertrag aussteigen zu können. Im Oktober schon hatte US-Präsident Donald Trump seinen Willen bekundet, den INF-Vertrag verlassen zu wollen. Die USA und die Nato werfen Russland eine Verletzung des Abkommens vor. Seine Marschflugkörper mit dem Namen 9M729, die von der Nato als SSC-8-Raketen bezeichnet werden, sollen laut Nato mehr als 500 Kilometer Reichweite besitzen. Russland bestreitet das und wirft dem westlichen Verteidigungsbündnis seinerseits Verstöße vor. Und zeigt sich, wie bei einem Ultimatum zu erwarten war, betont unnachgiebig: "Wie werden wir antworten? Ganz einfach: Wir werden das Gleiche tun", gab Präsident Wladimir Putin bekannt. Er bezog sich dabei auf "etwa zehn Länder", die bereit seien, Mittelstreckenraketen zu produzieren.

China benötigt seine Raketen

Wer von den beiden Großmächten im akuten Konflikt recht hat, weiß übrigens laut Walter Feichtinger, dem Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie in Wien, "keiner". Und der Politikwissenschaftler Heinz Gärtner hält die Nato-Frist von 60 Tagen nur für ein "Scheinultimatum", ein taktisches Manöver, mit dem der Westen "versucht, Russland die Schuld zuzuschieben", während allen Beteiligten klar wäre, dass der Vertrag ohnehin Geschichte sei.

Und dies nicht nur wegen des Konflikts der ehemaligen Supermächte: Denn während der INF-Vertrag Russland und den USA die Produktion von Mittelstreckenwaffen untersagte, sind aufstrebende Großmächte wie Indien und vor allem China nicht an solche Verbote gebunden. Und das nützen sie auch aus: Peking etwa benötigt seine Mittelstreckenraketen, um die US-Flotte von seinen Küsten fernzuhalten. Es hat nur wenige Langstreckenraketen. Chinas Raketen können mittlerweile auch US-Basen im Pazifik wie auf der Insel Guam erreichen. Mit der Aufkündigung des INF-Vertrags ist Washington in der Lage, dieser Herausforderung zu begegnen und selbst Raketen aufzustellen.

Rüstungsspirale droht

Feichtinger beunruhigt vor allem der völlige Mangel an Vertrauen, der heute zwischen Washington und Moskau herrscht. "Man unterstellt dem Anderen prinzipiell immer das Schlimmste", sagt der Brigadier des Bundesheeres zur "Wiener Zeitung". "Aus diesem Sicherheitsdilemma könnte sich dann eine Rüstungsspirale ergeben", befürchtet der Experte.

Damit wäre man in der Logik des Kalten Krieges gelandet - ohne dabei einfach die Situation der 1980er Jahre zu wiederholen. Denn heute seien statt zwei mit Indien und China "mindestens vier" Akteure zu berücksichtigen. Daher böte sich die Ausverhandlung eines neuen, diesmal multilateralen INF-Vertrages an.

Die Erfolgsaussichten dafür sind aber düster, bisher gibt es kaum diplomatische Initiativen in diese Richtung. Also wird es wohl wieder zur Stationierung von Mittelstreckenraketen auf europäischem Boden kommen. Die Risiken, die der Kontinent dabei eingeht, sind groß: Ein Nuklearkrieg zwischen Russland und den USA würde wohl in Europa stattfinden. Die Hemmschwelle für einen solchen militärischen Konflikt wird durch das Ende des INF-Vertrags gesenkt. "Die neue US-Nuklearstrategie sieht vor, auch kleinere Atomwaffen zu entwickeln. Der INF-Vertrag war hier ein Hindernis", sagt Gärtner. Mit seinem Verschwinden könne man nun "quasi von konventionell auf mittelstreckennuklear steigern, ohne gleich Interkontinentalraketen einsetzen zu müssen"- ganz wie in den 1980er Jahren. Die Vorwarnzeiten betragen nur wenige Minuten. Die nukleare Bedrohung ist in Europa zurück.