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Eine kleine Insel der Demokratie im südchinesischen Meer

Von Thomas Seifert aus Taipeh (Text und Fotos)

Politik

Peking beansprucht die Insel Taiwan für die Volksrepublik, die taiwanesische Bevölkerung schwankt zwischen schroffer Ablehnung Chinas, einem pragmatischen Kurs der Erhaltung des Status quo und einer Peking-freundlichen Linie.


Taipeh. Jede Stunde von 9 bis 17 Uhr sieht man in der Gedächtnishalle für Chiang Kai-shek in Taipeh ein zackiges Ritual: Soldaten mit chromblitzenden Helmen, blankpolierten Stiefeln und Gewehren mit aufgesetztem Bajonett stehen gerade, stramm und gesammelt habt acht. Dann hebt sich der Arm, ganz langsam, im Zeitlupentempo. Plötzlich eine Gewichtsverlagerung, eine gekonnte Drehung, die Stiefelabsätze der Gardesoldaten klacken aneinander. Dann leises klirrendes Scheppern, wenn das Gewehr auf dem Marmorboden abgesetzt wird. Die Wachablöse ist streng durchchoreografiert wie beim Marsch der Zinnsoldaten im "Nussknacker" von Peter I. Tschaikowsky.

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Chiang Kai-shek ist eine durchaus umstrittene Figur: 2017 wurde sogar diskutiert, die Statue des einstigen Militärdiktators aus der Halle zu verbannen. Peking wiederum hat die Rolle seines historischen Erzfeinds im Kampf gegen die Japaner neu bewertet und dessen ehemalige Residenz in Nanjing aufwendig renovieren lassen.
Doch nach dem Entspannungskurs vor einigen Jahren stehen die Zeichen zwischen Peking und Taipeh jetzt wieder auf Konfrontation. Erst am Donnerstag hielt Taiwans Armee Manöver mit scharfer Munition ab – als Reaktion auf den Aufruf von Präsident Xi Jinpings zur Wiedervereinigung mit China Anfang Jänner.

Verbündeter und Erzfeind

Doch zurück zu Chiang Kai-shek. Der zeitweilige Verbündeter von Mao Tse-tung im Widerstand gegen die japanischen Besatzer war später im Ringen um die Macht im chinesischen Bürgerkrieg Maos erbitterter Widersacher. Die USA unterstützten ihn erst gegen die Japaner und nach dem Sieg über das Reich der aufgehenden Sonne gegen die Kommunisten. Doch Chiang kam im Ringen mit Mao in die Defensive.

Im Laufe der Zeit war Mao immer mehr auf dem Vormarsch, am 22. Jänner 1949 unterzeichnete der auf Chiangs Seite kämpfende Militärkommandant von Peking die Kapitulationsurkunde. Chiangs Porträt am Tiananmen-Platz wurde entfernt, ein Lkw der Volksbefreiungsarmee fuhr durch das Westtor Pekings, aus den Lautsprechern tönte es: "Heißen wir die Volksbefreiungsarmee zu ihrem Eintreffen in Peking willkommen! Gratulation den Bürgern Pekings zu ihrer Befreiung!" Hinter dem Lkw marschierten Sechserreihen von herausgeputzten Soldaten, "mit roten Wangen und offenbar in bester Stimmung", danach Studenten, die ein riesiges Mao-Porträt trugen. So erzählt es der niederländische Sinologe und Historiker Frank Dikötter in seinem 2014 erschienen Buch "The Tragedy of Liberation – A History of the Chinese Revolution 1945–1957".

Von nun an ging es Schlag auf Schlag: Im Mai 1949 fiel Nanjing, die am Südufer des Jiangtse gelegene Hauptstadt der Nationalisten um General Chiang. Am 21. September 1949 rief Mao in Peking die Volksrepublik China offiziell aus, und am 1. Oktober 1949 stand Mao, "ein Mann mit zerknitterter Stoffmütze und abgetragener Kleidung auf einer Plattform am Tiananmen, am Tor des Himmlischen Friedens, in Peking. Er blickte über den riesigen Platz, der mit kleinen, zu ihm erhobenen Gesichtern erfüllt war – dem Volk", wie der 1973 verstorbene ungarische Autor und Journalist Georg Paloczi-Horvath über diesen Tag schrieb.

Chiang floh am 10. Dezember 1949 nach dem Fall von Chongqing, seiner letzten Hochburg nach Taiwan – Mao und die Kommunisten hatten den Bürgerkrieg gegen die Nationalisten für sich entschieden. Maos Anhänger jubilierten: "Nach mehr als hundertjähriger Herrschaft ist es die Wende vom Aufstieg zum Untergang des Imperialismus in China", wie der österreichische Arzt und Kommunist Fritz Jensen in seinem Buch "China siegt" aus dem Jahr 1949 schrieb.

Für die USA war der Sieg der Kommunisten jedenfalls eine epochale Niederlage: Eines der potenziell mächtigsten Ländern Asiens war nun in der Hand der Kommunisten. Doch die USA hielten weiter an Chiang fest, der in Taiwan eine Militärdiktatur errichtete, ehe sie unter Präsident Jimmy Carter am 1. Jänner 1979 ihre diplomatischen Beziehungen zu Taiwan beendeten und die Volksrepublik China als rechtmäßigen Vertreter Chinas anerkannten. Erst unter Chiangs Sohn Chiang Ching-kuo ging das Land Mitte der 1980er Jahre langsam auf Demokratisierungskurs, die ersten freien Wahlen fanden 1991 statt.

Das Verhältnis zwischen Peking und Taipeh ist auch heute einigermaßen kompliziert, in den 1950ern standen die Volksrepublik China und Taiwan zweimal knapp vor einem Krieg. Die KP in Peking beansprucht Taiwan bis heute als Teil Chinas und betrachtet die Insel als "abtrünnige Provinz". In der Gegenwart folgen die Beziehungen einem Auf und Ab: Ist die prochinesische Kuomintang (die Partei von Chiang) an der Macht, sind die Beziehungen friktionsfreier; regiert die proamerikanische, liberale Demokratische Fortschrittspartei (DPP), ist das Klima zwischen Peking und Taipeh frostiger.

Entspannung und Konfrontation

So wie jetzt: Erst diese Woche wurden 66 internationale Firmen (darunter Nike, Apple, Siemens oder Amazon) in einem Bericht der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften kritisiert, weil sie den Begriff "Taiwan" und nicht "Taiwan, China" verwenden. Und im Sommer hatten die chinesischen Luftfahrtbehörden verlangt, dass 44 internationale Luftlinien ihre Destinationsangaben von "Taipeh (Taiwan)" in "Taipeh (China") ändern sollten. Auch die Rhethorik von Präsident Xi gegenüber Taiwan war zuletzt schärfer. Vor einigen Wochen machte er in einer Rede deutlich, dass Peking auf dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" beharrt: Für China ist Taiwan ein integraler Bestandteil der Volksrepublik.

China hält es für strategisch notwendig, den Einfluss der USA aus der eigenen Nachbarschaft zurückzudrängen: Für chinesische Militärplaner ist nach der Vertreibung der Amerikaner aus Vietnam in den 1970ern und dem Ende der britischen Kolonialherrschaft über Hongkong im Jahr 1997 der logische nächste Schritt, Taiwan wieder in den eigenen Orbit zu bekommen.
In Taiwan wiederum gibt es unterschiedliche Positionen im Verhältnis zu Peking: Da gibt es etwa den pensionierten Armeeoffizier aus Taichung, der zweitgrößten Stadt Taiwans, der als Fremdenführer am malerischen Sonne-Mond-See in Zentral-Taiwan tätig ist und sich selbst als glühenden Chinesen sieht. Er sagt, er verspüre eine "enge Verbundenheit zum Festland – wir sind eins". Und er merkt an, dass Taiwan von der Stärke Chinas profitiere.

Die Wirtschaftseliten wiederum haben Milliarden auf dem Festland investiert (allein 2017 waren es 9,2 Milliarden Dollar – 44 Prozent der Auslandsinvestitionen gehen in die Volksrepublik China). Sie sind nicht daran interessiert, Peking mit Unabhängigkeitsgelüsten zu provozieren. Und selbst die Partei der proamerikanischen derzeitigen Präsidentin Tsai Ing-wen, die einen Kurs größtmöglicher Autonomie von China verfolgt, hat sich längst vom Ziel einer offiziellen Unabhängigkeit Taiwans verabschiedet.

"Wir werden uns weder militärischem noch politischem Druck beugen"<p>Chiu Chui-Cheng vom Rat für Festland-Angelegenheiten bekräftigt diese Position auch im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" im Rahmen eines Treffens mit einer Gruppe internationaler Journalisten: "Wir halten am Status quo fest. Aber dieser Status quo ist derzeit nicht ruhig oder statisch." Chiu hat aber auch eine Botschaft an die Führung in Peking: "Unsere Regierung widersetzt sich allen Aktivitäten Chinas, den Status quo zu verändern. Wir werden uns weder militärischem noch politischem Druck beugen. Unsere Meinungsverschiedenheiten können wir nur durch Dialog lösen."

Eine junge NGO-Mitarbeiterin aus Taipeh hat vor einigen Jahren mit der sogenannten Sonnenblumen-Bewegung sympathisiert, die gegen die chinafreundliche Linie der damaligen Kuomingtang-Regierung von Präsident Ma Ying-jeou demonstrierte. Die knapp 35-Jährige engagiert sich heute für die Unabhängigkeit von Tibet sowie für chinesische Dissidenten und ist für eine möglichst rasche und strikte völlige Unabhängigkeit Taiwans von der Volksrepublik.

Vor der Chiang Kai-shek-Gedächtnishalle exerziert eine Gruppe junger Menschen. Hier wird nicht mit blitzblank geputzten Gardewaffen hantiert, sondern Holzgewehre fliegen durch die Luft, dazu spielt elektronische Musik und das Ganze sieht eher nach Cheerleader-Spaß als nach militärischen Übungen aus. Junge Frauen tragen Baseballmützen, schicke Sonnenbrillen und sportliche Hoodies. Die fröhliche Sport-Exerzier-Truppe ist das passende Gegenstück zu den zackigen Gardesoldaten im Gebäude und ein Sinnbild für eine neue taiwanesische Gesellschaft, die sich immer mehr von Chiang Kai-sheks strammen Kurs entfernt.

Wieviel China steckt in Taiwan?

Etwas mehr als einen Kilometer südöstlich von der Gedächtnishalle ist das Büro von Ketty W. Chen, Vizepräsidentin der Taiwan Foundation of Democracy. Chen ist davon überzeugt, dass sich bei der jungen Generation eine dezidiert taiwanesische Identität herausgebildet hat: "Demokratie ist Teil dieser Identität. Die taiwanesische Demokratie ist noch jung, aber sie ist alt genug, dass jene, die ab 1992 geboren wurden, nie etwas anderes als ein demokratisches System erlebt haben. Sie sind es gewohnt, offen ihre Meinung zu sagen und Politiker zu kritisieren."

Tatsächlich beschäftigen sich viele Taiwanesen mit ihrer eigenen Identität: Wie viel China steckt in Taiwan? Worin bestehen die Unterschiede zwischen der Republik China und der Volksrepublik China? Wie tief sind die Spuren, die das japanische Kaiserreich, das Taiwan zwischen 1895 und 1945 kontrollierte, hinterlassen hat? Wie ähnlich ist Taipeh der früheren britischen Kronkolonie Hongkong? Und hat Taipeh vielleicht mehr mit Xiamen, Shenzhen oder Schanghai gemein als diese chinesischen Städte mit Ürümqi oder Kaxgar im äußersten Westen der Volksrepublik? Sind nicht viele taiwanesischen Musiker und Künstler überaus erfolgreich in der Volksrepublik? Und sind nicht Touristen vom Festland überrascht über die freundlichen Umgangsformen in Taiwan?

Ständige Gefahr der Eskalation

Gleichzeitig hängt ständig die Gefahr einer Eskalation zwischen Peking und Taipeh in der Luft. Einerseits könnte Taiwan eines Tages im Konflikt zwischen den USA und China zum Zankapfel werden, andererseits könnte Taiwans Präsidentin Tsai oder Chinas Präsident Xi wieder einmal mit Nationalismus punkten wollen. "Taiwan ist das Thema, das die Emotionen auf dem Festland am leichtesten erregt – gleichzeitig ist hier eine Lösung am unwahrscheinlichsten: Taiwan ist seit mehr als drei Jahrzehnten eine lebendige Demokratie, die 23 Millionen Taiwaner zeigen nicht die geringste Lust, sich freiwillig unters Joch der KP zu begeben", schreibt Kai Strittmatter, der langjährige Peking-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung", in seinem jüngst erschienen Buch "Die Neuerfindung der Diktatur – Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert".

Gerade um den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 2019 könnten in China die Emotionen rund um das Thema Taiwan einmal mehr hochkochen. Ein Aspekt Taiwans könnte der Pekinger Führung ein besonderer Dorn im Auge sein: Das Beispiel der lebendigen und quirligen Demokratie in Taiwan steht – ebenso wie Hongkong – in schroffem Gegensatz zur immer wieder von chinesischen Funktionären geäußerten und von manchen Vertretern westlicher Wirtschaftseliten artig beklatschten Meinung, dass China noch nicht für Demokratie und Freiheit bereit sein.

Compliance-Hinweis: Die Reise wurde vom Taipei Wirtschafts- und Kulturbüro in Österreich organisiert.