"Wiener Zeitung": Vor etwas mehr als 30 Jahren fiel die Berliner Mauer und der Block-Konflikt ging zu Ende. Steuern wir heute auf einen neuen Kalten Krieg - nun zwischen den USA und China - zu?

Yan Xuetong: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Kalten Krieg und der heutigen Konfrontationsstellung. Im Kalten Krieg gab es zwei Blöcke: den Ostblock und den Westen. Die Mitglieder jedes Blocks übernahmen die Positionen der jeweiligen Führungsmacht ihrer jeweiligen Hemisphäre und folgten auch weitgehend der Ideologie der UdSSR oder der USA. Das ist dieses Mal anders: Die Konfrontation zwischen den USA und China ist eine Konfrontation zwischen zwei Staaten. Die anderen Staaten werden Raum zwischen diesen beiden Mächten finden und dann ihre Entscheidung treffen, welche Seite sie in dem einen oder anderen Fall unterstützen werden - und zwar je nach ihren individuellen nationalen Interessen. Ein Beispiel: Die wirtschaftlichen Interessen der meisten ostasiatischen Nationen, darunter Südkorea und Japan - aber auch Australien - sind eng mit jenen Chinas verknüpft, während sie in sicherheitspolitischen Fragen eher eine Linie vertreten, die näher bei jener der USA liegt. Sie setzen also auf militärische Hilfe der USA und gleichzeitig auf die Märkte Chinas. Aber: Die bipolare Konfiguration kommt mit Riesenschritten auf uns zu - das ist spürbar. Die Kunst liegt nun darin, die Freiräume in dieser neuen bipolaren Welt zu suchen und zu finden und eine Strategie zu entwickeln, sich Vorteile sowohl von den USA als auch von China zu sichern.
Der Finanzminister von Singapur, Heng Swee Keat, sagte hier beim Weltwirtschaftsforum, er habe manchmal das Gefühl, er sitze in einem Flugzeug, in den der Pilot und der Kopilot - damit meinte er die USA und China - streiten. Für die Passagiere sei das einigermaßen besorgniserregend.
Die Passagiere sind sich aber nicht einig, was in dieser Situation zu tun ist - um bei diesem Bild zu bleiben. Die neue Realität, die in den ersten Konturen bereits erkennbar ist, ist so, dass keine Nation mehr in der Lage ist, die Welt nach den eigenen Wünschen und Zielen zu formen. Das gilt auch für China und die USA. Die anderen Staaten werden eine Strategie verfolgen, bei der es darum geht, das eigene nationale Interesse zu sichern.
Noch vor einigen Jahren prägte der britische Historiker Niall Ferguson den Begriff "Chimerica", man hatte den Eindruck China und die USA seien wie siamesische Zwillinge, die gemeinsam Ausschau nach Win-Win-Situationen halten. Ist Chimerica zu Ende?