
Es gibt mehr und mehr Interessenskonflikte zwischen Washington und Peking. Die treibende Kraft hinter diesem Auseinanderdriften ist, dass das Machtungleichgewicht zwischen beiden Nationen kleiner wird. Die USA möchten dieses Machtungleichgewicht erhalten und greifen jetzt zu brutalen Methoden, um Chinas weiteren Aufstieg zu bremsen oder zu stoppen. Wenn sich zwei Elefanten streiten, dann leidet das Gras am meisten, lautet ein afrikanisches Sprichwort - und das wissen auch die anderen Staaten. Ein weiteres Resultat dieser Entwicklung ist: Bilateralismus gewinnt an Bedeutung, Multilateralismus kommt hingegen in Schwierigkeiten.
Die kanadische Außenministerin Chrystia Freeland zitierte den Ausspruch des früheren demokratischen Sprechers des US-Repräsentantenhauses, Tip ONeill: "all politics is local" - "alle Politik ist lokal" und setzte eins drauf: "all geopolitics is national" - "Geopolitik ist national". Ist da etwas dran?
In den internationalen Beziehungen geht es um Geopolitik. Aber die nationale Politik eines Landes hat zunehmend Einfluß auf die Innenpolitik anderer Nationen. Die Überlappungen werden da größer und größer. Das sieht man gerade an den EU-Ländern. Und Kanada spürt ebenfalls, wie es ist, wenn man in den Streit der Großmächte hineingezogen wird. Im Falle Huawei (es geht um die Verhaftung einer Huawei-Spitzenmanagerin in Kanada auf Betreiben der USA, Anm.) hat sich Kanada auf die Seite der USA gestellt und damit China verärgert.
Es können jederzeit auch andere Länder in diesen Großmächtestreit hineingezogen werden. Gerade europäische Länder haben bedeutende Interessen sowohl in den USA als auch in China. Wie sollen sie sich verhalten?
Da bedarf es kluger, smarter Politiker. Nationale Politik und internationale Politik - das verschmilzt zunehmend. Schon 2006 hat der damalige Staatspräsident Hu Jintao dieses Prinzip in den entsprechenden offiziellen Dokumenten verankert.
Aber hat China Interesse an dem Konflikt mit den USA?
Nein. China ist selbst überrascht, wie schnell sich die Situation zugespitzt hat. Ich habe 2013 ein Buch veröffentlicht, in dem ich die Überzeugung vertreten habe, dass wir in eine Ära einer neuen, bipolaren Weltordnung eintreten und China zur Junior-Weltmacht aufsteigen wird. Ich wurde damals massiv kritisiert. Und auch einige in der politischen Führung meinten: "Yan Xuetong, da liegst Du falsch. Wie soll China in zehn Jahren zur Weltmacht werden? Das ist doch unmöglich! Das dauert doch noch 50 Jahre." Dabei ist die Veröffentlichung dieses Buches erst sechs Jahre her! Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob China auf die Situation vorbereitet ist, dann muss ich sagen: Nein. Die Eliten haben nicht gedacht, dass der Aufstieg Chinas so schnell vonstattengehen wird.
Welche Rolle spielt Russland in dieser neuen Konfiguration? Für die USA könnte es ja Sinn ergeben, sich Russland anzunähern, um so den Handlungsspielraum gegenüber China zu vergrößern.
Das mag schon sein. Aber wenn Washington die Nähe zu Moskau sucht, dann werden die europäischen Verbündeten nervös. Das wollen die USA nicht riskieren.