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Die Rückkehr der Atomgefahr

Von Gerhard Lechner

Politik

Am Samstag läuft das US-amerikanische Ultimatum an Russland betreffend Verletzung des INF-Vertrags ab.


Washington/Moskau. Wolfgang Ischinger gilt nicht als Alarmist. Der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz ist ein erfahrener Jurist, Diplomat und Sicherheitsexperte. In "Report München", einer Sendung im deutschen Fernsehen ARD, äußerte er sich am Dienstagabend allerdings ungewohnt deutlich: "Die europäische Sicherheitsarchitektur wird mit der Abrissbirne peu a peu zerbröselt", sagte der Schwabe, als er auf das nahende Ende des INF-Vertrags angesprochen wurde. "Viel schlimmer kann es eigentlich nicht kommen", konstatierte Ischinger eine nachhaltige "Krise der Ost-West-Beziehungen".

Diese Krise zwischen Russland und dem Westen, die sich in den letzten Jahren gefährlich hochgeschaukelt hat, gewinnt nun eine neue Qualität. Am Samstag endet jenes US-Ultimatum, das Russland 60 Tage Zeit gegeben hat, die Zerstörung seiner neuen Marschflugkörper vom Typ 9M729 zuzusagen. Für die USA ist erwiesen, dass die russischen Raketen mit dem Nato-Code SSC-8 mindestens 2600 Kilometer weit fliegen können. Wenn das zutrifft, würde Russland den 1987 abgeschlossenen INF-Vertrag verletzen. Die USA haben im Herbst angekündigt, wegen dieser Verletzung des Abkommens durch Moskau aus dem Vertrag ausscheiden zu wollen - falls der Kreml nicht einlenkt. Russland bestreitet die Vorwürfe energisch und wirft umgekehrt den USA vor, dass von ihren Abschussrampen für das Raketenabwehrsystem in Osteuropa nach kurzem Umrüsten auch Cruise Missiles gestartet werden könnten, die ihrerseits gegen den INF-Vertrag verstoßen.

Gute Gründe für den Ausstieg

Dieses Abkommen verbietet unter anderem den Bau und den Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen oder Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Solche Raketen hatten in den 1980er Jahren Europa zum potenziellen Schauplatz eines Atomkrieges gemacht.

Die in Europa zuerst von der Sowjetunion stationierten Mittelstreckenraketen hätten es für die damaligen Supermächte USA und UdSSR im Extremfall möglich gemacht, einen begrenzten Atomkrieg auf europäischem Boden zu führen, ohne gleich Interkontinentalraketen einzusetzen und damit die eigene Vernichtung zu riskieren. Durch den Umstand, dass bei Mittelstreckenraketen die Vorwarnzeiten nur wenige Minuten betragen, war auch das Risiko eines Kriegsausbruchs durch ein Versehen entsprechend groß. Erst der Abschluss des INF-Vertrages hat dieses Damoklesschwert von Europa genommen. Jetzt allerdings scheint die atomare Gefahr nach Europa zurückzukehren. Denn es ist extrem unwahrscheinlich, dass es zwischen Russland und den USA, deren Position - was die russischen Raketen betrifft - von den Nato-Staaten geteilt wird, in derart kurzer Zeit noch zu einem Ausgleich kommt. Damit werden die USA wohl ihre Ankündigung wahr machen und den Vertrag am kommenden Samstag verlassen.

Rechtswirksam wird der US-Austritt allerdings erst sechs Monate nach der Kündigung des Vertrags. Theoretisch bliebe also noch Zeit für Verhandlungen. Besonders in Deutschland ist der Widerstand gegen eine Stationierung von atomar bestückbaren Mittelstreckenraketen in Europa groß. Außenminister Heiko Maas versuchte bis zuletzt, mittels Pendeldiplomatie zwischen Washington und Moskau zu vermitteln. Genutzt hat es nichts.

Das könnte auch daran liegen, dass es sowohl für Washington als auch für Moskau gute Gründe für einen Ausstieg gibt. Im Gegensatz zu den 1980er Jahren entwickeln heute Mächte wie China oder Indien Mittelstreckenraketen, während die USA und Russland an den INF-Vertrag gebunden sind. China benötigt die Raketen, um die US-Flotte vor seinen Küsten in Schach zu halten.