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Wusste Erdogan doch vom Putschversuch?

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Ein Dokument erhärtet den Verdacht, dass der türkische Präsident vorab informiert war.


Nikosia. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 besiegelte das Schicksal der Demokratie in der Türkei. Mit harter Hand ging Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan anschließend gegen Kritiker vor und ließ sich in einem Referendum autokratische Vollmachten übertragen. Doch bis heute sind die Stimmen nicht verstummt, die in dem Umsturzversuch eine gelenkte Operation sehen, die Erdogan zu dieser Machtfülle verhelfen sollte; die größte türkische Oppositionspartei CHP spricht von einem "kontrollierten Putsch". Jetzt hat ein exiltürkischer Journalist ein offizielles Protokoll des leitenden Staatsanwaltes in Ankara aus der Putschnacht veröffentlicht, das den Verdacht nährt, die Regierung habe von dem Staatsstreich gewusst und ihn für ihre Selbstermächtigung genutzt.

Während die türkischen Medien die Enthüllung fast komplett ignorierten, wurde sie in den sozialen Medien sofort zum Zankapfel der bis aufs Blut verfeindeten politischen Gruppen; denn der freie Journalist Ahmet Dönmez, der das brisante Papier am Montag auf seiner Webseite publizierte, schrieb früher für eine Zeitung der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Obwohl es eindeutige Belege gibt, bestreitet die Gülen-Sekte jede Beteiligung an dem misslungenen Staatsstreich.

Das Dokument ist ein offizielles Protokoll der Putschnacht, das der damalige Staatsanwalt Serdar Coskun verfasste und unterzeichnete. Als Teil der Gerichtsakten steht die Echtheit des Papiers außer Frage; sie wurde inzwischen auch durch den bekannten Istanbuler Journalisten Nedim Sener bestätigt.

Coskun, der letztes Jahr in den obersten türkischen Berufungsgerichtshof Yargitay befördert wurde, hat sein Protokoll auf den 16. Juli ein Uhr nachts datiert, rund drei Stunden nach Beginn des Putschversuchs. Um diese Zeit wurde unter anderem auf Basis dieses Papiers damit begonnen, rund 2700 Richter und Staatsanwälte vom Dienst zu suspendieren oder festzunehmen. Diese Auswirkung sowie Datum und Uhrzeit begründen die besondere Brisanz des Protokolls. Denn Coskun listet darin neben authentischen Ereignissen andere auf, die um ein Uhr nachts noch nicht stattgefunden hatten, und weitere, die überhaupt nicht eintraten.

Beispielsweise beschreibt der Staatsanwalt die Bombardierung des Parlaments in Ankara, die um 2.35 Uhr und 3.24 Uhr morgens stattfand, also frühestens anderthalb Stunden nach Abfassung des Protokolls; und es gab dort auch keine Toten, wie Coskun fälschlich darlegt. Ohne Zeitangabe schreibt er: "Soldaten umzingelten das Hauptquartier des Nationalen Geheimdienstes in Ankara" und: "Die Geheimdienstabteilung der Polizei wurde bombardiert."

Verräterische Angaben oder menschliche Irrtümer?

Diese Vorfälle gab es nicht. Falsch sind auch Coskuns Notizen über die Ereignisse vor dem Präsidentenpalast. So schreibt er, die riesige Residenz sei von Putschisten belagert worden. De facto begaben sich in der Putschnacht aber nur 13 Soldaten zu Erdogans Amtssitz. Auch wurde anders als im Protokoll verzeichnet, keine Bombe auf den Komplex abgeworfen, sondern es wurden lediglich ein Parkplatz und eine Straßenkreuzung in der Nähe bombardiert - um 6.19 Uhr, fünf Stunden nach Abschluss des Protokolls. Ebenfalls nie stattgefunden hat die Ernennung neuer Befehlshaber der Armee durch die Putschisten, die Coskun vermerkt.

Eine vermeintliche Erklärung für die Falschangaben lieferte am Dienstag der Journalist Nedim Sener in der regierungsnahen Zeitung "Posta". Darin schrieb er, Coskun habe ihm die Authentizität des Protokolls beglaubigt, aber erklärt, dass er zwar um ein Uhr nachts mit dem Schreiben begonnen, dann aber bis sieben Uhr morgens weitergeschrieben habe. Sener glaubt ihm und meint, damit bleibe von der angeblichen Brisanz des Papiers nichts übrig. Er greift den Enthüller Dönmez an und wirft ihm vor, in typischer Gülenisten-Manier "Lügen" zu verbreiten.

Die Verwicklung der Gülen-Sekte in den Putschversuch macht die Veröffentlichung durch einen ihrer Anhänger tatsächlich problematisch. Dönmez entgegnet, er versuche selbst, die Rolle der Bewegung in der Putschnacht aufzuklären. "Unabhängig davon ist das Protokoll wichtig, denn es entwertet das Narrativ der Regierung über den Putschversuch. Dieses Skandal-Dokument wirft die Frage auf, ob es eine vorbereitete Simulation für den Putsch gab."

Trotz der Brisanz des Protokolls schweigen darüber auch die wenigen türkischen Oppositionsmedien, wohl um nicht in den Verdacht zu geraten, mit den Gülenisten gemeinsame Sache zu machen. Nur die unabhängige exiltürkische Internetnachrichtenseite "Ahvalnews" hat inzwischen berichtet.

Die Erklärung Serdar Coskuns, er habe das Protokoll um sieben Uhr morgens abgeschlossen, werfe mehr Fragen auf, als sie beantworte, schreibt das Medium. Um diese Zeit müsse er viel genauer als um ein Uhr gewusst haben, was passiert sei, aber er habe trotzdem massenhaft Falschheiten produziert. "Das Protokoll bestätigt, was viele denken: Es war ein Putsch, von dem die Regierung vorab wusste", sagt der zuständige "Ahvalnews"-Redakteur Ergun Babahan. "Aber es ist unglücklich, dass es von den Gülenisten veröffentlicht wurde."