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"Die globale Ordnung löst sich auf"

Von Michael Schmölzer aus München

Politik

Im Fokus stehen die wachsenden Rivalitäten zwischen den USA, Russland und China.


München. Es sind riesige Delegationen aus China und den USA, die am heutigen Freitag zum Auftakt der Münchner Sicherheitskonferenz nach Deutschland kommen. Neben US-Vizepräsident Mike Pence reisen die demokratische Chefin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi und eine ganze Abordnung von Senatoren an. Peking schickt den obersten Außenpolitiker der Kommunistischen Partei, Yang Jiechi - ein Mann, der weit einflussreicher ist als der Außenminister des Landes. Zudem wird Russlands Außenminister Sergej Lawrow erwartet.

Die globale sicherheitspolitische Lage ist brisant. Totgeglaubte Gespenster gehen um, wieder ist die Rede von atomarer Aufrüstung. Der INF-Vertrag, der gegen Ende des Kalten Krieges zwischen Moskau und Washington geschlossen wurde, steht plötzlich zur Disposition. Der Vertrag verbietet die Stationierung von atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen. Die USA und Russland werfen einander vor, sich nicht an die Vereinbarungen zu halten. In Washington hält man den Russen vor, verbotene Marschflugkörper des Typs 9M729 - die Nato-Bezeichnung lautet SSC-8 - in Stellung zu bringen. Die Gefahr eines Wettrüstens wie in den 1980er-Jahren steht im Raum.

INF-Vertrag steht vor dem Ende

Es entfaltet sich eine Ära neuer Großmachtrivalitäten zwischen den USA, Russland und China. Peking macht den USA militärisch Konkurrenz, das chinesische Arsenal an atomwaffenfähigen Kurz- und Mittelstreckenraketen ist enorm, ebenso wie die militärstrategischen Ambitionen.

Sollten sich Washington und Moskau nicht einigen, dann läuft der INF-Vertrag im Sommer aus. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kommt deshalb als Krisenfeuerwehr nach München, um eine atomare Aufrüstung in Europa zu verhindern. Er will Lawrow treffen und die "sehr ernsten" Konsequenzen eines Scheiterns besprechen. Hauptfokus der Nato sei es, den Vertrag zu erhalten, sagt Stoltenberg. Trotzdem laufen Planungen auf Hochtouren, wie man im Fall der Fälle reagieren könnte. Eine Option wäre die Stationierung neuer konventioneller Waffen in Europa. Gleichzeitig will die Nato unbedingt mit Russland im Dialog bleiben. Dass Moskau rasch einlenkt, halten Diplomaten für unwahrscheinlich.

Das westliche Militärbündnis arbeitet jedenfalls mit voller Kraft daran, seine Einsatzbereitschaft zu erhöhen. Zuletzt hat man auf Druck der USA die "4x30"-Initiative beschlossen: 30 Schiffe oder U-Boote, 30 "schwere oder mittlere" Heeres-Bataillone und 30 Flugzeug-Staffeln sollen binnen "30 Tagen oder weniger" verlegbar sein. Washington geht das noch nicht weit genug. Hier drängt man auf die Einsatzbereitschaft von für größere Konflikte vorgesehene Reservekräfte binnen zehn Tagen.

Konferenzchef Wolfgang Ischinger warnt mit drastischen Worten vor der wachsenden Unsicherheit in der Welt: "Die globale Ordnung löst sich auf." Die Idee einer internationalen Ordnung, die auf gemeinsamen Regeln und einem globalen Ordnungsgefüge gründe, könne kaum noch aufrecht erhalten werden. Großmachtrivalitäten gewännen an Raum. Und: Ein Scheitern des INF-Vertrags wäre "eine Tragödie für die europäische Sicherheitsordnung."

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will das so nicht stehen lassen. Sie macht sich für eine Stärkung der multilateralen Strukturen stark: Sie müssten weiterentwickelt, aber erhalten bleiben, beschwört Merkel im Vorfeld der Konferenz den Geist der Kooperation.

In dieser Situation will sich die EU einen stärkeren sicherheitspolitischen Zusammenhalt verpassen und unabhängiger vom zunehmend unberechenbar gewordenen großen Partner USA werden. Zentral für alle europäischen sicherheitspolitischen Überlegungen ist die starke Achse Frankreich - Deutschland. Wobei Frankreichs innenpolitisch angeschlagener Präsident Emmanuel Macron seine Partnerin Angela Merkel im Regen stehen lässt: Der Franzose hat seine Teilnahme an der Münchner Sicherheitskonferenz kurzerhand abgesagt. Von einer Krise im deutsch-französischen Verhältnis will in Berlin freilich niemand sprechen.

Die Europäer werden jedenfalls von Washington unter Druck gesetzt. Trump will, dass alle Nato-Staaten bis 2024 "mindestens" zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben. Deutschland kommt bisher "nur" auf 1,24 Prozent.

Nicht nach München kommen will auch Israels Premier Benjamin Netanyahu. Damit werden die heftigen Attacken gegen den Iran, mit denen der streitbare Israeli im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt hat, ausbleiben. Damals schwenkte Netanjahu bei seiner Ansprache drohend ein Plastikteil, das von einer über Israel abgeschossenen iranischen Drohne stammen sollte.

Ivanka Trump erregt Aufsehen

Für Aufsehen in München sorgt das Erscheinen der Tochter des US-Präsidenten Ivanka Trump, die die Veranstaltung gemeinsam mit ihrem Ehemann Jared Kushner beehrt und an Diskussionsforen teilnehmen will. Bei so viel US-Prominenz geht der Auftritt des international noch wenig bekannten, geschäftsführenden US-Verteidigungsministers Patrick Shanahan ein wenig unter.

Die 600 Gäste der Sicherheitskonferenz, darunter 35 Staats- und Regierungschefs, 80 Außen- und Verteidigungsminister sowie zahllose Vertreter der Rüstungsindustrie, Wirtschaft und internationaler Organisationen werden von einem beispiellosen Polizei-Aufgebot geschützt. Insgesamt werden 4400 Beamte aus allen Landesteilen in München zusammengezogen - das sind 400 mehr als im Vorjahr. Eine konkrete Gefährdungslage bestehe aber nicht, hieß es.

Am Samstag werden Demonstranten durch das Zentrum von München marschieren und den Verkehr teilweise lahmlegen. Zu den Protesten haben globalisierungskritische, linke Gruppen aufgerufen. Das "Aktionsbündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz" erwartet mindestens 4000 bis 5000 Teilnehmer.