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Putin verstehen

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Vom KGB-Drahtzieher über den "neuen Zaren" bis hin zum Idol der Neuen Rechten - für kaum einen Weltpolitiker gibt es so viele diffuse wie spektakuläre Zuschreibungen wie für den russischen Präsidenten Wladimir Putin.


Wie tickt der russische Präsidenten Wladimir Putin wirklich? Wie viel Macht hat er und was will er? In seinem neuen Buch "We need to talk about Putin" ("Wir müssen über Putin reden") formuliert der britische Russland-Experte Mark Galeotti Thesen über den russischen Präsidenten. "Die Tendenz, Putin als einen machiavellistischen Drahtzieher zu sehen, der hinter allem steht, was im Westen falsch läuft, führt zum Trugschluss, alles sei Teil einer komplexen russischen Strategie", schreibt er. "Dadurch laufen wir Gefahr, ihm zu viel Macht einzuräumen." Die "Wiener Zeitung" bat Galeotti zu einem Interview.

"Wiener Zeitung": Dieser Tage erscheint Ihr neues Buch über Putin. Warum ist es gerade jetzt an der Zeit, über den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu reden?

Mark Galeotti: Russland ist zurück in der Weltpolitik. In dem Buch möchte ich mit den klassischen Klischees aufräumen, die uns dabei behindern, eine geeignete Russland-Politik zu finden.

Sie meinen vor allem die vielen Diskussionen über die russische Einmischung in den US-Wahlkampf, den Brexit oder den Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa?

Wie sehr Russland Ereignisse im Westen beeinflusst, wird aus meiner Sicht maßlos überschätzt. Zugegeben, wir leben in chaotischen Zeiten. Vor allem der Westen steckt in einer schweren Legitimationskrise, über viele Dinge gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens. Es ist ein schwaches, aber opportunistisches Russland, das den Willen hat, zu handeln. Die Krisen des Westens haben für Russland die Möglichkeit eröffnet, eine aktivere Rolle zu spielen.

Warum ist dem Westen die Fähigkeit abhandengekommen, Moskau richtig einzuschätzen?

Zur Wendezeit hatte es im Westen noch eine große Expertise über Russland gegeben. Einerseits hat inzwischen das Interesse an dem Land stark nachgelassen. Aber es liegt auch an Putin selbst, der in der Öffentlichkeit sehr verschlossen ist - abgesehen von seinen spektakulären Fotosessions. Aber den wirklichen, realen Putin bekommen wir nie zu Gesicht. Alles ist sehr diskret, nehmen wir nur seine Familie (Putins Töchter wurden nie öffentlich vorgestellt, Anm.). In gewisser Hinsicht ist er so zu einer Projektionsfläche der Anderen geworden. Jeder hat seinen eigenen, persönlichen Putin. Dadurch wird er zu einer überlebensgroßen Figur.

Das Bild vom großen Machtpolitiker spielt dem Kreml in die Hände.

Russland ist ein Land, das sich als eine globale Supermacht begreift. Bei der Wirtschaftsleistung ist Russland allerdings auf einer Stufe mit Spanien. Der Kreml hat aber etwas Wichtiges verstanden: In der Politik geht vor allem um Wahrnehmung. So versucht Moskau, wie eine Supermacht aufzutreten. Das geht aus ihrer Sicht am besten mit Bluffen und Prahlerei.

Wir alle kennen die Aussage des Ex-US-Präsidenten Barack Obama, dass Russland eine "Regionalmacht" und keine Supermacht sei. Was schlagen Sie vor, wie sollte der Westen mit Putin umgehen?

Es mag fachlich korrekt sein, Russland als Regionalmacht zu bezeichnen. Aber politisch gesehen war die Aussage idiotisch. Wir sollten Russland schlichtweg nicht kleinreden und Putin provozieren, das hat einen Nerv bei ihm getroffen. Solange es Putin gibt, werden wir in dieser politischen Konfrontation mit Russland feststecken. Wir sollten aber auch über Putin hinausdenken und klarmachen, dass wir nicht die Feinde der russischen Bevölkerung sind. Das ist ein zentrales Element des Putin’schen Narrativ: dass die Welt ein für die Russen feindlicher Ort ist. Wir sollten hart gegenüber Putin und den Kreml sein. Aber zugleich sollten wir zeigen, dass wir kein Problem mit den Russen haben. Ich denke etwa an Reiseerleichterungen.

Wo sehen Sie die großen Missverständnisse bei der Person Putin?

Es kursieren so viele Klischees. Etwa, dass ihn seine Vergangenheit im sowjetischen Geheimdienst KGB bis heute prägt. Er sei der James-Bond-Bösewicht, der kaltblütige Meister, der hinter allem steckt. Dadurch übersehen wir die Rolle, die Putin im Machtsystem einnimmt. Wenn wir nach einem großen Plan suchen, werden wir ihn nicht finden.

Dennoch lässt sich Russland kaum als Basisdemokratie beschreiben.

Aber die Entscheidungsprozesse sind oft viel komplexer, als sie scheinen. Sie kommen unter Einfluss von Institutionen, Oligarchen, Botschaftern, Spionen und Journalisten zustande. Wenn Sie in Russland sind, dann merken Sie schnell: Das ist kein Regime, das in der Lage ist, alles bis ins kleinste Detail zu managen. Der Kreml gibt vielmehr die Tonart vor. Es ist wie in einem Unternehmen: Alle Mitarbeiter versuchen, ihrem Chef zu gefallen. So versuchen die Akteure im russischen System, dem Kreml zu gefallen. Sie zerbrechen sich ständig den Kopf darüber, was sich der Chef im Kreml wohl wünscht - vom lokalen Gouverneur über den Chef der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, bis hin zum Chef des Investigationskomitees.

Außerhalb Russlands ist Putin zu einer Galionsfigur der Neuen Rechten geworden. Sie schreiben aber, dass Putin keineswegs diese ideologische Figur ist, für die ihn die "Fans der rechten Szene" halten.

Es ist faszinierend: Dass es keinen wirklichen, realen Putin gibt, wird zu einem beträchtlichen politischen Kapital. Putin kann alles für alle sein. Für die Konservativen ist er jemand, der für traditionelle Werte steht - obwohl er für den Schwangerschaftsabbruch eingetreten ist. Für die Linken verkörpert er wiederum die Werte der alten Sowjetunion . . .

. . . und den Anti-Amerikanismus.

Genau. Manche sehen ihn als einen Linken - was er bestimmt nicht ist. Aber sie sehen ihn als alternativen Pol, der die US-Dominanz in der Welt anficht. Nationalisten sehen in ihm jemanden, der sein Land von den Knien wieder erhoben hat. "Make Russia great again." In der Werbung nennt man das Marktsegmentierung: Man verkauft das Produkt an unterschiedliche Zielgruppen, mit unterschiedlichen Botschaften. Russland ist ein post-ideologisches Land mit vielen Akteuren, die alle versuchen, ein Putin-Narrativ voranzutreiben.

Einer dieser Akteure ist der Putin-Berater Wladislaw Surkow. "Der Putinismus wird ein Jahrhundert überdauern", schrieb er zuletzt. Wie ernst sollten wir solche Beiträge nehmen?

Ich denke, dass er damit die Diskussion über die Zeit nach Putin (dessen Amtszeit 2024 ausläuft, Anm.) eröffnen wollte. Mit seinem Text spricht er drei Zielgruppen an. Zu Putin sagt er: Keine Sorge! Dein Erbe ist gesichert. Zum System sagt er: Keine Sorge! Selbst ohne Putin werden wir die Dinge auf die Reihe bekommen. Zu den Russen sagt er: Keine Sorge! Wir haben alles unter Kontrolle und denken über die Nachfolge nach.

Mark Galeotti ist ein britischer Historiker mit dem Schwerpunkt Russland. Sein Buch zu dem Thema, "We need to talk about Putin – Why the West gets him wrong, and how to get him righ"", erscheint am 21. Februar.