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"Größte Beleidigung für die Bevölkerung"

Von Klaus Huhold

Politik

Algerien wird von einer Protestwelle erfasst.


Algier/Wien. Er möchte schon noch Präsident bleiben, aber nur noch ein bisschen. Derart lässt sich die Reaktion von Algeriens Präsidenten Abdelaziz Bouteflika auf die Protestwelle in seinem Land zusammenfassen.

Seit Wochen fordern zehntausende Menschen in verschiedenen Städten, dass der 82-jährige Bouteflika, der seit rund 20 Jahren das Land regiert, bei der Präsidentenwahl am 18. April nicht noch einmal antritt - es wäre seine fünfte Amtszeit. Bouteflika befindet sich nach einem Schlaganfall in einer Genfer Klinik, und es gibt große Zweifel, dass er noch amtsfähig ist. Nun verkündete der Veteran des Befreiungskrieges gegen die französischen Kolonialherren, dass er noch einmal kandidieren, im Falle seiner Wiederwahl aber nicht die gesamte Amtszeit absolvieren wolle. Eine "nationale Konferenz" soll dann einen Termin für vorgezogene Wahlen festsetzen. Bouteflika gab das übrigens nicht persönlich bekannt, sondern eine Nachricht von ihm wurde im Staatsfernsehen verlesen.

Schattenreich der Macht

Dass Bouteflika damit die Situation beruhigen kann, glaubt der aus Algerien stammende und an der deutschen Phipps-Universität in Marburg lehrende Politologe Rachid Ouaissa nicht. Vielmehr nehmen Vertreter der Protestbewegung - mit denen Ouaissa in Kontakt steht - diesen Schritt als "größte Beleidigung für die Bevölkerung" wahr. Denn die Mitteilung dahinter würde laut Ouaissa lauten: "Wir haben innerhalb des Machtzirkels keinen anderen Kandidaten. Bitte gebt uns noch ein bisschen Zeit, damit wir einen anderen finden."

Überhaupt sei Bouteflika "nur das Gesicht des Problems", betont Ouaissa im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Deshalb würden sich die Proteste nicht nur gegen ihn, sondern gegen die gesamte herrschende Elite richten.

Das ist eine undurchsichtige Gruppe aus Militärs, Geheimdienstlern, Funktionären der regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) und Verwandten Bouteflikas. Die Algerier sprechen hierbei nur von "le pouvoir", der Macht. Dieser geschlossene Zirkel hält die Fäden in der Hand. Wahlen ändern daran wenig, das Parlament gilt in Algerien nur als Fassade, als Showbühne.

Selten ist der Machtapparat so herausgefordert worden wie in den vergangenen Tagen, und dementsprechend war auch seine Reaktion: Die Polizei setzte Tränengas gegen Demonstranten ein, es gab dutzende Verletzte. Und auch Medien wurden immer wieder an ihrer Berichterstattung über die Proteste gehindert.

Doch verheimlichen lassen sich diese ohnehin nicht mehr. Ausländische Diplomaten schätzen, dass in der Hauptstadt Algier am Wochenende rund 70.000 Bürger auf die Straße gingen. Und die vor allem über soziale Medien organisierten Demonstrationen fanden auch in anderen Städten wie Oran, Annaba oder Constantine statt.

"Ich denke, das ist eine Bewegung, die dauerhaft sein und bis zur Erschütterung der Macht führen wird", sagt Ouaissa. Denn erstens handle es sich um eine überregionale Bewegung, die das ganze Land erfasst hat. "Zweitens ist das nicht nur ein Aufschrei der Marginalisierten." Viel mehr würden die Proteste viele Bevölkerungsgruppen umfassen und vor allem von der Mittelschicht getragen. "Und die ist in Algerien sehr breit."

Verunsicherte Mittelschicht

"Die Ungewissheit macht die Mittelschicht wütend", sagt der Politologieprofessor. Das hängt wiederum mit der wirtschaftlichen Lage zusammen. Die algerische Wirtschaft ist sehr stark vom Öl- und Gasexport abhängig. Profitierte Bouteflika in seinen ersten Amtszeiten über weite Strecken noch von dem hohen Ölpreis, der zeitweise bei mehr als 100 Dollar pro Barrel lag, ist dieser in den vergangenen Jahren zumeist nach unten gegangen und notiert derzeit bei etwa 65 Dollar. Die Mittelschicht, die mit dem hohen Ölpreis aufgestiegen ist, "sieht nun ihre Lage gefährdet", berichtet Ouaissa.

Der zweite Grund für die Unsicherheit: "Das korrupte und mafiöse System." Was sie auch studiert haben, wie gut ausgebildet sie auch sind - algerische Bürger würden ständig an eine unsichtbare Barriere stoßen. "Ohne die richtigen Beziehungen können Algerier keine dauerhafte Stabilität in ihrem persönlichen Leben erlangen", berichtet Ouaissa.

In den vergangenen Jahren sind aber sämtliche Protestwellen wieder abgeebbt - weshalb auch der Arabische Frühling an dem nordafrikanischen Land relativ spurlos vorbeizog. Denn einerseits ist es dem algerischen Rentierstaat gelungen, mit aus Öl- und Gaseinnahmen finanzierten Sozial- und Wirtschaftsprogrammen die Bevölkerung wieder ruhig zu stellen. Andererseits war die Erinnerung an den Bürgerkrieg, der in den 1990er Jahren zwischen Islamisten und dem Militär geführt wurde, zu frisch. Damals waren rund 200.000 Menschen getötet worden.

Ziviler Ungehorsam

© M. Hirsch

Diesmal sei die Situation aber anders, meint Ouaissa. Der Staat könne nicht mehr durch Geschenke breite Schichten der Bevölkerung auf seine Seite ziehen. "Das Geld reicht dafür nicht mehr." Zudem sei in dem jungen Land - fast 70 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre - eine neue Generation herangewachsen und die Angst vor der Instabilität deshalb nicht mehr so stark. Außerdem besitze die Protestbewegung laut Ouaissa auch "eine gewisse Reife", sei gut organisiert, setze auf verschiedene Protestformen wie etwa Sitzstreiks und begreife sich dabei als friedlicher Aufstand.

Islamistische Bewegungen konnten bisher bei den Demonstrationen nicht Fuß fassen. Andere Oppositionspolitiker versuchen nun, Teil der Bewegung zu werden, doch diese kommt vor allem aus der Bevölkerung selbst. In den kommenden Tagen will sie sich klarere Strukturen geben, bestimmen, wer ihre Repräsentanten sind. Zudem diskutiert sie über ihre nächsten Schritte. Zur Debatte steht dabei auch ziviler Ungehorsam, mit dem das Land lahmgelegt werden soll. Le pouvoir, die Macht in Algerien, wird derzeit herausgefordert wie schon lange nicht mehr.