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"Der Finanz- ist ein Testosteronsektor"

Von Michael Schmölzer

Politik

Soziologe Colin Crouch über die traditionsversessene Identitätssuche und Allmachtfantasie von Rechtspopulisten.


Dürnstein. "Demokratie! Zumutung oder Zukunft" ist der Titel des diesjährigen Symposion Dürnstein. Die "Wiener Zeitung" hat in diesem Zusammenhang mit dem renommierten Politologen und Soziologen Colin Crouch gesprochen, der sich intensiv mit dem Phänomen der Postdemokratie auseinandergesetzt hat und der die liberale Demokratie, wie wir sie heute kennen, von vielen Seiten gefährdet sieht.

"Wiener Zeitung": Sie sagen immer wieder, dass es Bereiche gibt, wo sich Neoliberalismus und xenophober Nationalismus treffen...Colin Crouch: Paradoxerweise...

...eine dieser Parallelen, sagen Sie, ist eine "maskulinistische Agenda". Was genau meinen Sie damit?

Wenn Sie sich die verschiedenen Dinge ansehen, die beim rechten Populismus zusammenkommen, dann fällt eine gewisse Nostalgie auf, die sich auf verschiedene Bereiche erstreckt. Eine Nostalgie, die den souveränen Nationalstaat betrifft, eine Gesellschaft, in der es keine Immigranten gibt - obwohl es das nie gegeben hat. Eine Gesellschaft, in der die Rollen zwischen Mann und Frau traditionell geregelt sind. Eine Nostalgie, die zurückverweist auf die alte industrielle Gesellschaft. Dadurch wird eine politische Identität gebildet. Momentan liegt der Schwerpunkt dieser Nostalgien auf Immigration und nationaler Souveränität.

Wenn Sie aber ins Detail gehen, finden Sie oft, dass das Genderverhältnis sehr traditionell gedacht wird. Für US-Präsident Donald Trump ist das sehr wichtig. Das aufrüttelndste Beispiel war zuletzt der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, für den die Rückkehr zur traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau extrem wichtig ist. Er sagte, im neuen Brasilien würden Knaben Blau tragen und Mädchen Rosa. Es gibt hier eine Unzufriedenheit mit der sich ändernden Rolle von Mann und Frau. Das ist "Maskulinismus". Ein Wort, das Sie in manchen Wörterbüchern finden werden. In Italien und England gibt es das Wort.

Wie steht der Neoliberalismus zum Maskulinismus?

Neoliberalismus ist hier neutral.

Menschen sind hier nur eine Einheit ohne Geschlecht und Herkunft?

Arbeiterrechte, Frauenrechte, Rechte auf Partizipation - das war auf der Agenda eines neoliberalen und sozialdemokratischen Joint Venture. Obwohl sie das nie zugegeben haben. Der Neoliberalismus ist in diesem Bereich einfach blind.

In der Theorie schon. Aber in der Praxis? Neoliberalismus, das ist doch stark sein ohne Regeln. Das klingt doch männlich?

Ja, das ist sehr richtig. Der Finanzsektor ist ein Testosteronsektor. Das ist sehr interessant.

Wo Neoliberalismus und xenophober Populismus noch aufeinandertreffen, ist Ihrer Meinung nach der Brexit. Wie das?

Ja, so soll etwa der Wohlfahrtsstaat geschwächt werden. Einer der Slogans der Brexiteers lautet, wir sollten das Singapur des Atlantik werden. Die Argumentation lautet, dass viele der Sozialgesetze "von außen" kommen, aus der EU. Aber: Um außerhalb der EU bestehen zu können, wird Großbritannien sehr wettbewerbsorientiert sein müssen. Um wettbewerbsfähig zu sein, muss viel an Sozialgesetzgebung abgeschafft werden. Ein Brexit-Argument, das in der Öffentlichkeit so gut wie nicht verwendet wird, lautet, dass wir härter sein müssen, dem Sturm trotzen. Das sind die, die sagen, dass wir auf sehr brutale und unmittelbare Art aus der EU hinaus und uns dem harten internationalen Wettbewerb stellen müssen.

Warum ist der sozialdemokratische Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn eigentlich so EU-kritisch?

Da muss man in die 1960er und 1970er Jahre zurückgehen. Die Linke hat die EU nicht nur als kapitalistische, sondern auch als katholische Gemeinschaft gesehen und kritisiert. Später hat die Linke den EU-Beitritt dann graduell akzeptiert. Viele haben aber gesagt: "Nein, wir müssen unsere Industrie vor europäischem Wettbewerb schützen." Wir brauchen Protektionismus, die Festung Großbritannien. Subventionen und Zölle. Ein sehr altmodisches sozialdemokratisches Modell. Die Linke und die Gewerkschaften haben so bis in die 1980er Jahre gedacht.

Unter Premierministerin Thatcher haben die Gewerkschaften dann bemerkt, dass sie in Brüssel mehr Freunde als in London haben. Und die Gewerkschaften wurden sehr pro-europäisch. Überlebt hat eine Gruppe bei den Linken, die immer noch an Protektionismus glaubt. Corbyn ist Teil dieses Lagers. Er ist da sehr strikt: Er mag die EU nicht.

Wie glauben Sie, geht die Brexit-Sache aus?

Vielleicht bekommt May teilweise Unterstützung von Labour-Abgeordneten. Vielleicht bekommt sie auch Unterstützung von Konservativen. Da gibt es viele, die glauben, dass Großbritannien unglaublich stark und mächtig ist. Man kann nicht für den Brexit sein, ohne das zu glauben. Vielleicht kommen da viele bis zum 29. März drauf, dass wir nicht so stark sind, und lenken ein. Davon hängt es ab - und von der nordirischen DUP, deren Unterstützung May braucht. Das ist eine existenzielle Frage. An einem Aufschub ist die EU jedenfalls nicht interessiert.

Glauben Sie, dass Präsident Donald Trump die Möglichkeiten hat, das Konzept Demokratie weltweit nachhaltig zu beschädigen? Oder kommt es in zwei Jahren zu einem Backlash, der für Demokratie sogar förderlich ist?Wir wissen es nicht. Was Trump beschädigt, sind die internationalen Institutionen. Die sind aber nicht wirklich demokratisch, und das ist unser Problem. Wir müssen sie demokratisieren. Dazu kommt, dass sehr reiche Menschen aus dem Trump-Umfeld in Europa äußerst aktiv sind und Einfluss nehmen wollen. Das Gleiche passiert von der anderen Seite, von Russland. US-Milliardäre und der Kreml haben die Brexiteers illegalerweise finanziert. Der Kreml schafft eine nationalistische Internationale, die viel besser organisiert ist als die internationale Internationale. Die Störaktionen von außen sind gefährlich für europäische Politik. Hier sollen Institutionen unterminiert werden. Nicht Demokratie, sondern die Institutionen.

Zuerst wird die Justiz angegriffen...

Das Problem bei Populisten ist, dass sie sagen: "Wir repräsentieren den Volkswillen." Es gibt keine Vielfältigkeit. Alles, was dazwischen steht, auch Gerichte oder die Zentralbank, ist Feind des Volkes. Aber der Lackmustest ist, wenn sie beginnen, den Rechtsstaat anzugreifen. In Ungarn und Polen ist das passiert. Da werden dann die "ungewählten Richter" attackiert. Das ist Wahnsinn, denn Demokratie muss vor sich selbst geschützt werden, eingedämmt. Die politischen Führer haben einen großen Anreiz, Regeln zu brechen, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Auch wenn sie das nicht tun: Sie müssen Regeln gehorchen, die von außen kommen.

Wenn xenophobe Populisten etwa im Europäischen Parlament eine Koalition schmieden, dann zerbricht diese häufig sehr rasch. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Das hat mit Extremismus zu tun - linkem wie auch rechtem. Wenn Leute extrem sind, tolerieren sie keine Kompromisse und zersplittern. Konsens ist für sie Betrug. Extremisten sind nicht kompromissfähig. In Zentrumsparteien ist dieser hingegen möglich.

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