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"Die Leute wollen keine Politiker mehr"

Von Gerhard Lechner

Politik

Der Publizist Juri Durkot über die Enttäuschung und Naivität der ukrainischen Wähler, die den politisch vollkommen unerfahrenen Komiker Selenski zum Nachfolger von Präsident Poroschenko machen könnten.


"Wiener Zeitung": Bei der ukrainischen Präsidentenwahl am Sonntag bahnt sich eine Überraschung an. Der Komiker und Schauspieler Wolodymyr Selenski, der in einer TV-Serie einen ehrlichen Geschichtslehrer spielt, der zum Präsidenten gewählt wurde und als solcher der Ukraine energisch die Korruption bekämpfte, liegt in allen Umfragen voran - weit vor Präsident Petro Poroschenko und Ex-Premierministerin Julia Timoschenko. Wie ist das möglich?

Juri Durkot: Viele Wähler sind enttäuscht von der Politik, weil es weder dem Präsidenten gelungen ist, sich zu einem echten Reformer zu entwickeln, noch den jungen, demokratischen Post-Maidan-Kräften, eine eigene Partei zu etablieren. Jetzt halten die Leute Ausschau nach neuen Gesichtern. Das erklärt das Phänomen Selenski. Er ist ein politisch völlig unerfahrener Komiker, der kein Programm hat, aber wohl in die Stichwahl kommen wird.

Wer hat denn Chancen, in den zweiten Wahlgang zu kommen?

Wie es aussieht, nur drei Kandidaten: Poroschenko, Timoschenko und Selenski.

Könnte nicht doch noch ein anderer Kandidat, etwa Ex-Verteidigungsminister Anatoli Hryzenko, der oft als Kandidat der Reformer bezeichnet wird, den Sprung in die Stichwahl schaffen?

Ganz sicher kann man sich nie sein. Es gibt sehr viele Unentschlossene, etwa ein Viertel der Wähler. Trotzdem sieht es nicht danach aus. Selenski hat einen Vorteil: Er konnte sich lange Zeit als Komiker mit politischen Themen profilieren, den Präsidenten und die Regierung durch den Kakao ziehen. Diese Kritik ist ja auch berechtigt. Trotzdem sagt das Ausmaß an Zustimmung, das er jetzt hat, auch etwas über die Naivität der Wähler aus.

Kann man das Phänomen Selenski nicht auch positiv sehen? Immerhin wäre mit ihm als Präsidenten ein Generationswechsel weg von den alten oligarchischen Eliten der 1990er Jahre eingeleitet.

Ja, das kann man so sehen. Noch wichtiger ist für viele Ukrainer aber, dass er bis jetzt kein Politiker war. Das ist nämlich der Punkt: Die Leute wollen ganz einfach keine Politiker mehr. Umfragen zeigen, dass das Vertrauen in die Regierung in der Ukraine auf dem niedrigsten Stand seit der Unabhängigkeit ist. Die Vertrauenswerte der Behörden liegen derzeit bei neun Prozent. Das ist sehr, sehr wenig. Deshalb ist man auch bereit, für jemanden zu stimmen, der von außerhalb des politischen Systems kommt. Selenski punktet am stärksten bei der Smartphone-Generation, die mit Internet, Facebook und Co. aufgewachsen ist.

Selenski führt ja einen reinen Online-Wahlkampf, zumindest hier in der Westukraine. Ich habe kein einziges Plakat und keinen Wahlkampfstand von Selenski gesehen. Kann man mit einer solchen Strategie wirklich Präsident werden?

Selenski ist tatsächlich so bekannt, dass er auf Plakate verzichten kann. Im Fernsehen wirbt er allerdings schon mit Werbespots, und im Internet natürlich.

Vassili Holoborodko, der Präsident, den Selenski in der TV-Serie spielt, ist ein hemdsärmeliger Kämpfer gegen die Korruption, der hart durchgreift. Haben die Ukrainer eine Sehnsucht nach dem starken Mann?

In diesem Land hat es so ein starker Mann schwer. Ich würde die Ukraine mit Ländern wie Griechenland oder Italien vergleichen, wo sich ein klientelistisches System herausgebildet hat, weil es vor der Einführung der Demokratie nur einen schwachen Staat gegeben hat. In einem solchen System werden die Wähler mit Geld oder Beamtenposten geködert. In der Ukraine gibt es noch einen zusätzlichen Faktor: die Armut. Die Menschen sind bereit, Politiker ganz einfach aufgrund von Wahlgeschenken zu wählen. So hat die Regierung die Pensionen "zufälligerweise" gerade zum jetzigen Zeitpunkt erhöht. Und die ärmsten Pensionisten bekommen eine Zusatzzahlung: eine vor dem Wahltermin - und eine vor der Stichwahl.

Julia Timoschenko versucht zum vermutlich letzten Mal, Präsidentin der Ukraine zu werden. Viele bezeichnen sie als eine gefährliche Populistin. Ist sie das?

Populisten sind im Grunde alle drei Kandidaten, die vorne sind - auch Poroschenko, der gegen Timoschenko polemisiert. Manche versuchen ja auch, sie als prorussische Kandidatin zu bezeichnen. Diese Dämonisierung Timoschenkos ist freilich ungerecht. Unter den Gegnern Timoschenkos befinden sich besonders viele Intellektuelle. Auch Jungwähler tendieren eher nicht dazu, sie zu wählen. Timoschenko punktet bei den Älteren, in Kleinstädten und Dörfern.

Hat sie nicht auch versucht, die jungen Gebildeten zu erreichen?

Ja. Im vergangenen Jahr hat sie versucht, sich als große Modernisiererin zu inszenieren. Auf einem Kongress hat sie eine programmatische Rede gehalten, in der sie Starökonomen und Philosophen zitiert hat. Sie hat versucht, bei Intellektuellen und Jungen Boden gutzumachen. Aber es hat nicht funktioniert. Für die Jungen blieb sie unglaubwürdig, und ihre Stammwähler hat das Manöver irritiert. Sie hat das dann auch sehr schnell aufgegeben und konzentriert sich jetzt, ganz wie Poroschenko, auf ihre Stammwähler, die eher im Westen oder in der Zentralukraine zu finden sind. Als prorussische Politikerin würde ich sie jedenfalls nicht bezeichnen. Vor der Unterzeichnung des Gasvertrags mit Russland 2009, der ihr immer wieder vorgehalten wird und für die Ukraine ungünstig war, stand sie unter großem Druck sowohl von Russland als auch von der EU, die damals ja kurzzeitig kein russisches Gas bekommen hat.

Die Gaspreise sind ja auch eines der Hauptthemen im aktuellen Wahlkampf.

Ich würde sogar sagen, sie sind das größte Wahlkampfthema. Fast alle Kandidaten versprechen, die Gaspreise zu reduzieren. Diese Preisanhebung, die der Internationale Währungsfonds (IWF) angestoßen hat, ist im Volk sehr unpopulär. Der IWF verlangt den gleichen Gaspreis für alle Verbraucher, weil unterschiedliche Preise Korruption möglich machen. Derzeit zahlt aber die Wirtschaft deutlich mehr fürs Gas als die Bürger. Geht es nach dem IWF, soll das angeglichen werden. Es soll noch weitere zwei Gaspreiserhöhungen geben. Ob die wirklich kommen, ist aber fraglich.

Ein anderes Thema, das die Ukrainer sehr emotionalisiert, ist die Korruption. Hier ist Präsident Petro Poroschenko in ein schiefes Licht geraten.

Ja, es gab einen Korruptionsskandal in der ukrainischen Armee. Präsident Poroschenko hat einen Mann, mit dem er in der Wirtschaft Jahrzehnte eng zusammengearbeitet hat, zum stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates ernannt. Dieser Mann war dort auch zuständig für Aufträge im Verteidigungsbereich. Jetzt hat sich herausgestellt, dass sich nicht nur dieser Mann, sondern auch sein Sohn und dessen Freunde unglaublich bereichert haben. Viele können sich einfach nicht vorstellen, dass all das ohne das Mitwissen von Poroschenko abgelaufen sein soll.

Hat ihn das Stimmen gekostet?

Wahrscheinlich schon. Poroschenko setzt vor allem auf zwei Themen, mit denen er punkten kann: die Anerkennung der neuen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche durch den Patriarchen in Konstantinopel und die Visafreiheit für die EU. Er wird von vielen Ukrainern als das kleinere Übel angesehen. Ob das reicht, um in die Stichwahl zu kommen, wird sich zeigen.