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Hauptsache, Erdogan siegt

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Der türkische Politologe Aktar über Wirtschaftskrise, Wahlmanipulation und Erdogans Kontrolle über die Kommunen.


"Wiener Zeitung": Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat die Kommunalwahlen am Sonntag zum Kampf ums Überleben der türkischen Nation erklärt. Ist die Türkei in Gefahr oder nicht vielmehr Erdogans islamische Regierungspartei AKP?

Cengiz Aktar: Eindeutig ist diese Wahl eine existenzielle Prüfung für Erdogan und sein Regime, zugleich aber geht es um Leben oder Tod für die Türkei, da sein Schicksal eng mit dem des Landes verknüpft ist. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung glaubt Erdogan, was er sagt: Etwa, dass die Türkei derzeit gezielt und koordiniert aus dem Ausland attackiert wird. Die große Mehrheit teilt diesen Schwachsinn, auch viele Wähler der Oppositionsparteien CHP und IYI. Die wahren Probleme sehen sie nicht. Gerade befindet sich die türkische Lira in einer dramatischen Lage. Der Zins für Übernachtkredite war zwischenzeitlich auf unglaubliche 1200 Prozent gestiegen!

Weil die türkische Zentralbank angeordnet hatte, dass an den Finanzmärkten keine Lira mehr verkauft werden dürfen.

Die Regierung wollte den Eindruck erwecken, dass die Lira stark ist, um sich damit bis zum Wahltag zu retten. Das ist vorübergehend gelungen. Aber sie spielt damit Vabanque mit den Regeln des freien Marktes. Es bedeutet nämlich, dass die Türkei es in Zukunft extrem schwer haben wird, "heißes Geld" aufzutreiben, um ihre Defizite zu finanzieren. Der Markt wird viel höhere Zinsen verlangen. Das gefährdet die türkische Wirtschaft.

Erwarten Sie Manipulationsversuche der Regierung bei der Wahl ?

Natürlich - und zwar mehr als je zuvor. Die letzten relativ freien und fairen Wahlen fanden im Juni 2015 statt. Alle darauffolgenden Wahlen oder Referenden wurden manipuliert - dafür reicht es aus, sich den Fall des inhaftierten früheren HDP-Chefs Selahattin Demirtas anzuschauen. Und wenn sie mit dem Fälschen nicht das gewünschte Ergebnis erzielen, werden sie zu anderen Mitteln greifen. Zum Beispiel gewählte kurdische Bürgermeister für illegal erklären und durch Staatskommissare ersetzen.

Wird das Oppositionsbündnis so viele Städte gewinnen, wie es nach aktuellen Umfragen scheint?

Nein, unmöglich. Istanbul bleibt vermutlich in Händen der AKP. In Ankara könnte die Opposition gewinnen. Izmir wird die Opposition sicher halten, außerdem wird spekuliert, dass sie die viertgrößte türkische Stadt Bursa gewinnt. Aber das Regime hat zwei große Trümpfe in der Hand: erstens die Anklage kurdischer Politiker. Erdogan sagt ganz offen: Wählt keine Politiker, die mit "Terroristen" verbunden sind, denn ich werde sie sofort wieder absetzen. Zweitens wird die Zentralregierung die von der Opposition verwalteten Kommunen finanziell aushungern.

Geht das rechtlich überhaupt?

Im August erließ Erdogan sein Präsidialdekret Nr. 17. Demnach müssen alle Kommunen einen Monat vor einer größeren Ausgabe eine Genehmigung des Finanzministers einholen - also von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak. Das bedeutet: Wenn die Opposition eine Stadt regiert und das Regime sie liquidieren will, wird sie ihr einfach den Geldhahn zudrehen.

Wenn Erdogan ohnehin alles kontrolliert, warum hat er dann die Kommunalwahlen zur Schicksalsfrage erklärt? Das heißt doch im Umkehrschluss, dass ihm die Gemeinden wichtig sind.

Sie sind wichtig, weil sie erstens eine große Einnahmequelle darstellen und zweitens diese Wahl mehr denn je als Volksabstimmung für oder gegen das Regime gilt. Kommunalwahlen hatten in der Türkei wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Gemeinden immer nationalen Charakter. Es ging immer um Parteien und nicht um die Bürgermeister und Stadträte, was völlig absurd ist. Aber diesmal sind die Wahlen mehr denn je eine Frage von Sein oder Nichtsein, denn wegen der Parteiallianzen gewinnt jetzt, wer 50 Prozent plus eine Stimme holt. Diese klare Mehrheitsentscheidung ist neu.

Die Bürger spüren die Rezession. Sollte man nicht erwarten, dass sie die AKP dafür bestrafen?

Selbst wenn die Menschen gegen Erdogan stimmen, wird das veröffentlichte Endergebnis der AKP im ganzen Land niemals weniger als 50 Prozent betragen. Im Lauf der Jahre hat Erdogan eine politische Philosophie entwickelt, die ganz auf dem Majoritarismus beruht. Er bezieht seine gesamte Legitimität aus Wahlen. Sie sind der beste Weg zu zeigen, dass ihn die Mehrheit weiterhin unterstützt. Falls er einmal weniger als 50 Prozent erhält oder die Wahlbeteiligung wie in Venezuela unter 50 Prozent sinkt, würde dies eine Legitimitätskrise auslösen. Dann würde auch die Außenwelt seine Herrschaft in Frage stellen.

Warum klammert sich Erdogan so sehr an die Macht? Sind 17 Jahre nicht genug?

Dieses Regime einschließlich Erdogan selbst waren in so viele illegale Handlungen verwickelt, dass er schlicht Angst hat. Am Nachmittag des Tages, an dem er die Macht verliert, würde er angeklagt und müsste sich vor dem Obersten Gericht verantworten.

Erdogan scheint unbesiegbar, andererseits ist er so schwach wie nie zuvor . . .

Ich stimme zu, er ist schwach, das Regime ist schwach, das Land ist schwach. Aber: Das ändert sich nicht durch Wahlen. Das wird sich nur durch eine schwere Wirtschaftskrise oder außenpolitische Krise in Syrien mit den USA und/oder Russland ändern. Aber man darf auch davon keine Wunder erwarten. Das Regime könnte das Land vollkommen abriegeln. Die Türkei könnte zu einem Nordkorea in der Region werden, mit geschlossenen Grenzen, geschlossener Wirtschaft, dem Rauswurf der Intellektuellen - alles unter dem Vorwand eines "Angriffs" aus dem Ausland. Dies ist ein denkbares Szenario.

Was Bürgerkrieg bedeuten könnte.

Natürlich. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die Türken gute Untertanen sind. Sie rebellieren nicht. Ziviler Ungehorsam ist in der Türkei nicht oder nur sehr begrenzt bekannt. Die Menschen betrachten dies als Revolte gegen den Staat, und der Staat ist heilig. Die Gezi-Proteste von 2013 sind das einzige große Gegenbeispiel.

Haben Sie denn keine Hoffnung?

Nein. Die einzige Hoffnung für die Türkei, ein normales Land zu werden, war die EU-Beitrittsperspektive. Aber die Chance ist verloren. Der EVP-Kandidat für den EU-Kommissionsvorsitz, Manfred Weber, kündigte bereits an, im Falle eines Sieges die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort zu beenden.

Kann es nicht sein, dass sich die AKP spaltet, eine neue Partei gründet und schließlich das Regime abschüttelt?

Keine Chance. Das Regime ist nicht nur Erdogan, es sind auch die Nationalsozialisten des Dogu Perincek, die antiwestlichen Kemalisten, manchmal ist sogar die CHP ein Teil davon. Es gibt nicht die geringste Chance für eine solche Entwicklung.

Wie würden Sie das System Erdogan beschreiben?

Es ist definitiv ein totalitäres Regime. Im Autoritarismus zwingt der Führer seine Regeln allen auf, Menschen leiden darunter und hassen ihn. Aber im Totalitarismus wie bei Hitler, Mussolini oder Franco unterstützt die Mehrheit des Volkes das Regime, wie Hannah Arendt schrieb. Das ist Faschismus. Wenn wir das nicht verstehen, verstehen wir das Regime Erdogans nicht.

Was sollten die Europäer tun?

Sie sollten ihre Appeasement-Politik gegenüber dem Erdogan-Regime beenden.