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Das "Modell Erdogan" in der Krise

Von Ronald Schönhuber

Politik

Der stete wirtschaftliche Aufstieg der Türkei war in der Vergangenheit die Basis für die Erfolge der AKP. Nun, da das Land mit Konjunkturproblemen und hoher Inflation kämpft, wenden sich viele Wähler von der Regierungspartei und Präsident Erdogan ab.


Ankara/Wien. Das Pensum war selbst für die Verhältnisse des Staatspräsidenten enorm. In den Wochen vor den türkischen Kommunalwahlen war Recep Tayyip Erdogan durch das halbe Land getourt, hatte hunderte Hände geschüttelt und Rede um Rede gehalten. Überall war das Gesicht des Mannes, der bei diesen Wahlen gar nicht am Stimmzettel stand, zu sehen gewesen. Erdogan lächelte von riesigen Plakaten und aus Zeitungen, viele TV-Sender strahlten sogar die acht Ansprachen, die Erdogan an einem einzigen Tag gehalten hatte, in voller Länge aus. Wie schon auch bei den vergangenen Urnengängen sollte damit nichts dem Zufall überlassen bleiben.

Sein Ziel hat Erdogan, der die Wahl immer wieder zu einem Kampf um den Fortbestand oder Niedergang des Landes stilisiert hat, dennoch nicht erreicht. So ist die national-konservative AKP, deren Parteichef der Präsident seit knapp zwei Jahren wieder ist, aus der Abstimmung am Sonntag zwar erneut als landesweit stärkste Kraft hervorgegangen. Doch vor allem in den Großstädten musste die Regierungspartei teils empfindliche Stimmenverluste hinnehmen. So verlor die AKP nach knapp zwei Jahrzehnten an der Macht den Bürgermeistersessel in der Hauptstadt Ankara. Mit 50,9 Prozent der Stimmen lag Mansur Yavas, der Kandidat der linksnationalistischen CHP, klar vor AKP-Umweltminister Mehmet Özhaseki, der auf 47 Prozent kam. Noch schmerzlicher als der Verlust der Hauptstadt dürfte für Erdogan aber das Ergebnis in Istanbul gewesen sein. In der 15-Millionen-Metropole am Bosporus, in der einst Erdogans politischer Stern aufgegangen war und die er selbst viele Jahre als Bürgermeister regiert hatte, lag die CHP bei fast vollständig ausgezählten Stimmen knapp vor der Regierungspartei, die mit Ex-Premier Binali Yilidirim noch dazu einen äußerst prominenten Kandidaten ins Rennen geschickt hatte.

"Es geht ans Eingemachte"

Dass es gelungen ist, dem Präsidenten viele wichtige Städte abzuluchsen, dürfte auch für viele in der Opposition, die in der Vergangenheit immer wieder an der scheinbaren Unbesiegbarkeit Erdogans zerbrochen war, unerwartet gekommen sein. Doch ganz überraschend ist der Erfolg der CHP nicht. Denn auch wenn der Präsident in seinen Reden immer wieder den wirtschaftlichen Fortschritt der Türkei seit der Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 betont hat, verfängt diese Botschaft auch bei Erdogans Kernwählerschaft deutlich weniger stark als früher. Denn die verbesserte Infrastruktur im anatolischen Hinterland und all die neuen Spitäler, Sportstadien und Schnellstraßen können kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich der ehemalige Boom-Staat Türkei derzeit in einer veritablen wirtschaftlichen Krise befindet. So ist nicht nur die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres um eine Million angestiegen, seit Ende 2018 steckt das Land auch ganz offiziell in der Rezession.

Die wirtschaftlichen Probleme bekommen viele Menschen dabei auch ganz unmittelbar zu spüren. Denn neben einer auf fast 20 Prozent gestiegenen Inflationsrate hat auch die Landeswährung massiv an Wert verloren. Mussten die Türken für einen Euro vor zwei Jahren noch knapp vier Lira zahlen, so waren es in den vergangenen Monaten zwischenzeitlich mehr als sieben Lira. "Für manche Menschen hier geht es wirklich ans Eingemachte. Da macht es oft schon einen Unterschied, ob die Kartoffeln fünf oder sieben Lira kosten oder wie derzeit nur zwei", sagt Hans-Georg Fleck, Leiter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul, gegenüber der "Wiener Zeitung". Die für diese Menschen zentrale Frage, wie es mit der Inflation, der Arbeitslosigkeit und dem Währungsverfall weitergeht, habe die Regierung aber nicht beantwortet. Stattdessen hätten Erdogan und die AKP als Ablenkungsmanöver die Gefährdung der nationalen Einheit heraufbeschworen. "Die Bürger haben hier offensichtlich nicht den Eindruck gehabt, dass das Leute sind, die die wirtschaftspolitischen Faktoren verstehen", sagt Fleck. "Und das war ganz sicher ein entscheidender Faktor für dieses Wahlergebnis."

Die Ränder bröckeln

Für Erdogan dürfte das Resultat, auch wenn es an den großen Linien der türkischen Politik kaum etwas ändern wird, aber zumindest eine Warnung sein. Denn mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben vor allem die Ränder der AKP-Basis zu bröckeln begonnen, also jene Wähler, die angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse extrem wichtig sind, die die Partei aber weniger aus ideologischer Überzeugung gewählt haben als aus wirtschaftlichen Überlegungen. "A la longue kann man davon ausgehen, dass der Kurs, den die AKP bisher gefahren ist und der auch lange Zeit erfolgreich war, kein Erfolgsrezept auf Dauer sein muss", sagt auch Fleck. "Und wenn viele Wähler abwandern, kann sich die Waage irgendwann auch einmal auf der anderen Seite senken."