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Der Anfang der afghanischen Malaise

Von Gerhard Lechner

Politik

Vor 40 Jahren ermordeten kommunistische Regierungstruppen im Osten Afghanistans alle wehrfähigen Männer eines Dorfes. Das Massaker von Kerala leitete einen vierzigjährigen Krieg ein, der immer noch nicht zu Ende ist.


Kabul. Irgendwann muss das alles angefangen haben. Irgendwo. All das Morden in Afghanistan. Diese lange Reihe von Kriegen, Umstürzen und Stammesfehden, die ein zuvor halbwegs funktionierendes Land in einen Strudel von Chaos und Gewalt rissen. Die bewirkten, dass sich als Ergebnis der ständigen Regimewechsel auf dem Boden Afghanistans heute die staatliche Autorität weitgehend aufgelöst hat.

Die Regierung in Kabul, die sich mehr und mehr verschanzen muss, gebietet nach Schätzungen nur noch über rund 38 Prozent des afghanischen Territoriums. Die Taliban, zu deren Bekämpfung die USA nach den New Yorker Attentaten vom 11. September 2001 in dem Land am Hindukusch militärisch eingriffen, kontrollieren heute wieder mindestens 50 der 407 afghanischen Distrikte - und sind in mehr als 200 weiteren Distrikten die dominierende politische Kraft. Die Friedensgespräche, die im Golfemirat Dubai hätten stattfinden sollen, sind erst am Donnerstag auf unbestimmte Zeit verschoben worden.

Von Frieden kann ohnedies nicht die Rede sein: Im Winter gab es in fast allen Provinzen Kämpfe - noch vor dem Start der traditionellen Frühjahrsoffensive der Gotteskrieger, die kürzlich begonnen hat. Und all das passiert, obwohl es im Jahr 2018 die meisten US-Luftangriffe seit dem Rückzug eines Großteils der Nato-Truppen 2014 gegeben hat: 7362 Bomben und Raketen wurden nach Angaben des US-Oberkommandos abgefeuert. Ein Jahr zuvor lag die Zahl nur bei 4361 - und 2015 bei 947.

Kurz: Diesen Krieg noch zu gewinnen, ist auch für die hochgerüstete Weltmacht USA eine Illusion. Ganz wie es für die Sowjetunion eine war, deren Truppen im Februar 1989 das Land endgültig verließen - nach mehr als neun Jahren eines zuletzt immer aussichtsloseren Kampfes.

Schritt für Schritt ins Chaos

Wer an den Ursprung der afghanischen Tragödie zurückgehen will, muss ihn in Ostafghanistan suchen. Genauer: In Kerala, einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Asadabad, nicht weit von der pakistanischen Grenze entfernt. Dort ereignete sich am 20. April 1979, vor nunmehr genau 40 Jahren also, ein Massaker, das als eines der schlimmsten der afghanischen Geschichte gilt. 1170 Dorfbewohner, ausschließlich Männer und Buben, sollen nach Schätzungen von Sondereinsatztruppen der damaligen kommunistischen Regierung und von Polizisten getötet worden sein - die gesamte männliche Dorfbevölkerung im wehrfähigen Alter. Der Vorwurf, der ihnen laut Berichten von Augenzeugen gemacht worden sein soll, war, einen Vormarsch der aufständischen islamisch-konservativen Mudschahiddin-Kämpfer auf das Dorf nicht verhindert zu haben. Das war ihr Todesurteil: Die Männer wurden am Platz vor der örtlichen Moschee versammelt, ein Jeep fuhr vor, ein Offizier stieg aus - laut Augenzeugenberichten, die die deutsche Wochenzeitung "Zeit" recherchiert hat, soll es Saqid Alemyar gewesen sein, ein Hauptmann, der die Elitetruppe "Kommando 444" befehligte und der heute unbehelligt in den Niederlanden lebt.

Was danach geschah, ist unklar: weigerten sich die Dorfbewohner, kommunistische Slogans zu schreien? Schrien sie stattdessen "Allahu Akbar"? Oder fielen die Schüsse bereits nach einer simplen Replik eines Lehrers, der auf die Vorwürfe, man habe nicht genug gegen die aufständischen Mudschahiddin getan, antwortete, wie hätte man das Eindringen der Rebellen in das Dorf denn verhindern sollen? Fest steht nur: Die Soldaten feuerten, die Körper der Erschossenen fielen übereinander. Ein Bagger schob Erde über die Leichen.

Afghanistan war schon vor dem Massaker von Kerala Schritt für Schritt in die Instabilität gerutscht. Lange Zeit war das Land am Hindukusch ein Königreich. König Mohammed Zahir Schah, seit 1933 an der Macht, läutete sogar eine Wendung Richtung Demokratie ein, einschließlich Frauenwahlrecht, Modernisierung der Infrastruktur und Pressefreiheit - im streng islamisch-konservativen Afghanistan war das nicht immer populär.

1973 wurde der König, der sich gerade auf Kur im Ausland befand, jedoch von seinem Verwandten Mohammed Daud unblutig gestürzt. Afghanistan wurde Republik. Daud stützte sich zunächst auf die "Demokratische Volkspartei Afghanistans" (DVPA), eine Partei kommunistischer Prägung, betrieb allerdings bald eine Schaukelpolitik zwischen Moskau und dem Westen. Er gründete seine eigene Partei und rückte mehr und mehr von den Kommunisten ab - zu seinem Unheil: Im April 1978 wurde er in der "Saurrevolution" gestürzt und getötet.

Radikale Stalin-Fans

Träger der Revolution war vor allem der radikale Flügel innerhalb der Kommunisten, die sogenannten "Chalkis" (das Wort Chalk bedeutet "Volk"). Ziel dieser Gruppe war eine radikale Umwandlung und Modernisierung Afghanistans im Stil der stalinistischen Sowjetunion. Premierminister Hafizullah Amin, der Mann, der möglicherweise für das Massaker von Kerala verantwortlich war, verehrte Stalin und hatte eine Büste des Sowjet-Diktators auf seinem Schreibtisch. Von ihm ist der Spruch überliefert, dass Stalins Weg, in einem rückständigen Land den Sozialismus aufzubauen, zwar "am Anfang schmerzhaft" sei, "aber dann wendet sich alles zum Guten" - schließlich winkte in der Vorstellung der Chalkis am Ende der Anstrengungen das Paradies auf Erden: Für jeden ein Haus, Essen und Kleidung gratis. Dementsprechend radikal gingen die Revolutionäre zu Werke: So wurden die Güter der Großgrundbesitzer nach sowjetischem Vorbild in aller Eile unter Landarbeitern aufgeteilt. Das Ergebnis: Verheerende Missernten und erster Widerstand der Mudschahiddin.

Mit dem 20. April 1979 war dann der Damm gebrochen, der Weg zur Gewalt beschritten. Das Massaker von Kerala schüchterte weniger die Afghanen ein, als dass es deren Widerstandsgeist wach rief. Die kommunistische Regierung Amins, von Moskau wegen deren Radikalität ohnehin mit Argwohn beäugt - der Sowjet-Geheimdienst KGB hatte mehrmals versucht, Amin zu vergiften - , kam in Bedrängnis. Die Führung der UdSSR um Generalsekretär Leonid Breschnew entschloss sich zur Intervention - am 25. Dezember 1979 überschritten sowjetische Truppen die afghanische Grenze. Amin wurde abgesetzt und getötet, eine gemäßigte KP-Führung übernahm die Macht - und in Afghanistan begann der lange Stellvertreterkrieg des moskaugestützten Regimes gegen die von den USA unterstützten islamischen Rebellen.