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Der lange Schatten des Krieges

Von WZ-Korrespondent Markus Schauta

Politik

Der Wiederaufbau der 2017 vom IS befreiten nordirakischen Stadt Mossul kommt nur schleppend voran.


Mossul. "Fuck ISIS", hat jemand mit schwarzer Farbe auf eine Wand der ruinierten An-Nori-Moschee gesprüht. Im Juni 2014 hat hier, im Westteil von Mossul, Abu Bakr al-Baghdadi das Kalifat ausgerufen. Drei Jahre später drangen Spezialeinheiten der irakischen Armee in die Altstadt vor. In den Gassen, zu eng für Panzerfahrzeuge, wird um jedes Haus, jeden Hof gekämpft. Artillerie und Luftschläge pulverisieren ganze Häuserblöcke. Als Premierminister Haider al-Abadi die im äußersten Norden des Irak gelegene Stadt für befreit erklärt, liegt West-Mossul mit der historischen Altstadt in Trümmern. Vom berühmten 45 Meter hohen, schiefen Minarett der An-Nuri-Moschee blieb nur ein Stumpf übrig.

In der neunmonatigen Schlacht um Mossul haben die Koalitionsstreitkräfte 1250 Luftschläge durchgeführt. Laut UN-Habitat wurden mehr als 31.000 Gebäude beschädigt oder zerstört, die meisten von ihnen im Westteil der Stadt. Mit ihnen Straßen, Brücken, Wasser- und Stromleitungen. Geschätzte zehn Millionen Tonnen Schutt hat der Kampf um Mossul hinterlassen. Über eine Million Menschen sind während der Kämpfe geflohen. Und Tausende starben, zerdrückt unter einstürzenden Bauten, zerrissen von Explosionen, zerfetzt von Schrapnellen, erschossen von Scharfschützen. So ist es auf den Listen der Leichenhallen verzeichnet. Zwischen 9000 und 11.000 Zivilisten sollen ihr Leben verloren haben.

Explosiver Schutt

Das Viertel Mayasa liegt unweit der An-Nuri-Moschee in der Altstadt. Der Gestank der Leichen ist längst verzogen. Entlang der von Ruinen gesäumten Schlammpiste verkaufen Händler Tomaten und Gurken - Farben in einer Welt aus Grau und Braun. Im Metzgerladen - die Fassade von Kugeln zersiebt - hängt Fleisch an Eisenhaken, Rauch steigt von einem Grillofen auf. Langsam kehrt Leben in die Ruinen zurück.

Abseits der vom Schutt befreiten Straße ist das Scharren von Metall auf Stein zu hören. "Das Problem sind die engen Gassen", sagt Bayar Fahmi vom UN-Entwicklungsprogramm (UNDP). "Hier kann kein Bagger reinfahren, alles muss mit Hand gemacht werden." Im durchgebrochenen ersten Stock steht noch ein Metallbett an der grünen Wand. Im Erdgeschoss schaufeln ein Dutzend Arbeiter geborstene Ziegel und Zementbrocken aus der Ruine und schaffen sie mit Schubkarren weg. Raus auf die Schlammpiste, wo ein Bagger den Schutt auf LKWs kippt. "Vier Lastwägen voll werden täglich aus Mayasa und dem angrenzende Mansuriya gekarrt", so Bayar. Auf einen ständig wachsenden Schuttplatz irgendwo außerhalb Mossuls.

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt, dass in der Altstadt etwa zwei Millionen Tonnen Schutt anfallen. Von den 15.000 Häusern der historischen Viertel wurden laut UN-Habitat ein Drittel zerstört oder schwer beschädigt.

Die Männer und Frauen, die in den Ruinen anpacken, erhalten von UNDP 20 US-Dollar am Tag. Für viele das einzige Einkommen in der vom Krieg verwüsteten Stadt. Damit möglichst viele Einwohner Mosuls am Geld-für-Arbeit Programm teilnehmen können, ist die Arbeitszeit auf drei Monate pro Person beschränkt. Knapp 16.000 Menschen wurden seit Start des Projekts im Mai 2017 beschäftigt.

Doch in den Ruinen der Altstadt finden sie nicht nur Schutt. "Im Haus nebenan lag eine Leiche", so Bayar. Auf seinem Smartphone zeigt er Fotos von weiteren Fundstücken: Munition, eine Pistole, ein verbogenes Panzerabwehrrohr. Das Gefährlichste sind aber Sprengkörper. "Das Gebiet, wo wir arbeiten, wurde von Unmas gesäubert", erklärt Bayar. "Dort hinten noch nicht", und deutet ans Ende der Gasse: Ein Hof, meterhoch gefüllt mit den Trümmern der eingestürzten Nachbarhäuser, dahinter ein abgerissenes Minarett, von Tauben umkreist.

Böse Genies

"Wir schätzen, dass zwei Drittel der Sprengkörper unter dem Schutt verborgen sind", sagt Pehr Lodhammar, Leiter des Minenräumdienstes der UNO (Unmas) im Irak. Wir treffen ihn am Gelände des Al-Shifa-Krankenhauses. Von einem der modernsten Hospitäler des Landes sind nur mehr ausgebrannte Betonruinen übrig. Soldaten des IS hatten sich in den Kliniken am Ufer des Tigris verschanzt. Entsprechend schwer verliefen die Gefechte und Luftschläge auf die Anlagen.

Drei Monate nach Ende der Kämpfe begann Unmas seine Arbeit beim Al-Shifa-Hospital. Acht Monate dauerte der Einsatz. "Insgesamt haben wir 3500 Sprengkörper geräumt", so Lodhammar. Neben nicht detonierten Kampfmitteln wie Fliegerbomben, Granaten und Raketen fanden sie vor allem unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV), auch Sprengfallen genannt. Und bei der Herstellung dieser waren die Sprengstoffexperten des Islamischen Staates (IS) kreativ: Fernausgelöste Zünder, Druckzünder, Entlastungszünder, Passiv-Infrarotsensoren oder Kombinationen der genannten. "Böse Genies", wie Lodhammar sagt. Unter den Fundstücken waren auch mehr als tausend Sprengstoffgürtel. Diese seien Standard bei den Dschihadisten gewesen, so Lodhammar.

Ein Gang durch die Ruinen des Al-Shifa-Hospitals soll verdeutlichen, unter welchen Bedingungen die Einsätze der Kampfmittelräumer erfolgen. Über eine Treppe geht es ins Innere eines ausgebombten Betonklotzes. Als Unmas seine Arbeit hier begann, waren die Böden von Schutt und Glassplittern bedeckt. In einem dämmrigen Korridor - tote Stromkabel hängen von der Decke - spürt man einen geringen Widerstand an der Schuhsohle, gefolgt von einem leisen Klick: Ein Stolperdraht, wenige Millimeter über dem Boden gespannt. Würde es sich nicht um eine Vorführung handeln, wäre jetzt, durch den Zug am Draht, eine Sprengfalle ausgelöst worden.

"Das Räumen von Sprengkörpern ist psychisch anstrengend", sagt Jai Gardner. Der Ex-Soldat ist Kampfmittelräumer beim privaten Sicherheitsdienst G4S, der in Mossul im Auftrag von Unmas nach Sprengfallen und Kriegsschrott sucht. Sie erfordere höchste Konzentration, daher werden die Kampfmittelräumer alle 40 bis 60 Minuten abgelöst. Improvisierte Sprengfallen sind für Gardner, der weltweit im Einsatz war, nichts Neues. "Das Besondere hier ist die industrielle Massenfertigung der Sprengsätze." In einer ehemaligen Klinik des Al-Shifa-Hospitals fanden sie eine Werkstatt, in der Sprengfallen massenweise hergestellt wurden. Über 40.000 Sprengkörper konnte Unmas bisher in der Stadt sicherstellen. Lodhammar schätzt, dass es weitere acht Jahre brauchen wird, um gan Mossul von den explosiven Gefahren zu räumen.

Korruption frisst Hilfsgelder

Internationale Hilfsorganisationen und lokale Bevölkerung haben bisher viel geleistet. Doch es gibt auch Kritik. So beklagt Zuhair al-Araji, Bürgermeister von Mossul, dass es zu langsam voran gehe. Als Grund nennt er die zu geringe finanzielle Unterstützung aus Bagdad. Aktivisten und Blogger von "Mosul Eye" prangern die grassierende Korruption an, die einen Teil der Hilfsgelder fresse. Der Architekt Sioud al Omari beklagt die mangelnde Koordination beim Wiederaufbau. So komme es vor, dass Straßen fertiggestellt werden, kurze Zeit später der Belag aber wieder aufgerissen wird, weil auf die Kanalisation vergessen wurde. Auch würden aus politischen Gründen Projekte verhindert oder verzögert, um dem Gegner im politische Ränkespiel keinen Erfolg zu ermöglichen. Al Omari ist außerdem besorgt, dass den zerstörten historischen Gebäuden in der Altstadt nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Gefahr sei groß, dass historische Architekturteile wie Säulen, Fensterrahmen und dekorative Elemente auf den Schutthäufen vor Mossul verschwinden.

"Die Leute sollten nicht fragen, warum der Wiederaufbau so langsam voran geht", beschwichtigt Nawfal Hammadi al-Sultan, Ex-Gouverneur der Provinz Niniveh zu der auch Mossul gehört, in einem Reuters-Interview. Die Frage sei eher, warum man denn übereilt handeln sollte. Das Ende des Krieges liege ja noch nicht lange zurück. Viele Einwohner Mossuls sehen das anders. Sie wollen nicht mehr auf staatliche Hilfe warten und beginnen eigenständig, Schutt wegzuräumen und Häuser so gut es geht wieder aufzubauen. Im März wurde der Gouverneur Al-Sultan wegen des Vorwurfs der Korruption abgesetzt.

Etwa 300.000 Menschen warten immer noch auf die Rückkehr in ihre zerstörten Häuser. Andere sind bereits zurückgekehrt. Bushra Hadi Salih gart gefüllte Weinblätter in einem großen Topf im Hof ihres Hauses. Die 65-jährige Witwe wurde mit Beginn des Kampfes um Mossul vom IS gezwungen, ihr Haus zu verlassen. "Die haben in meinem Keller ein Spital für Dschihadisten eingerichtet", sagt sie. Salih und ihre Familie flohen über den Tigris in den Ostteil der Stadt, der im Jänner 2017 von den Streitkräften befreit wurde. Ihr Haus, ein einstöckiges Bauwerk um einen Hof, wurde von Granaten beschädigt. Im Zuge des UNDP-Programms zum Wiederaufbau leicht bis mittelschwer beschädigter Häuser wurden die Schäden ausgebessert. Insgesamt sollen 15.000 Häuser im Westen der Stadt von UNDP saniert werden, 2400 davon in der Altstadt. Geschätzte 575 Millionen US-Dollar sollen die Arbeiten kosten, inklusive der Schulen und Hospitäler, die UNDP wieder aufbauen wird, der Erneuerung des Strom- und Wassernetzes und den Löhnen für die Arbeiter. Salih ist froh, wieder hier zu sein. Ein Krankenbett im Keller erinnert noch an die Dschihadisten. Da wären auch Akten gewesen, erzählt sie. "Aber die habe ich verbrannt."

Mit der Vergangenheit, dem IS und dem Krieg, wollen die Menschen in Mossul abschließen. Doch die Zukunft lässt auf sich warten. Vor der nur einspurig zu befahrenen Tigris-Brücke staut sich der Verkehr. Nichts geht mehr. Kinder klopfen an die Scheiben, betteln um Geld und Essen. Narben des Krieges; überall. Um Frieden zu wahren, wird die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad den Wiederaufbau vorantreiben müssen. Korruption, Misswirtschaft und mangelnde Kooperation der verantwortlichen Politiker behindern die Bauarbeiten und geben den Sunniten in Mossul das Gefühl, vernachlässigt und ausgegrenzt zu sein. Ein Zustand, der dem der IS 2014 den Weg nach Mossul ebnete.