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Ein Präsident aller Ukrainer

Von Gerhard Lechner

Politik

Selenskyj löste bei seiner Angelobung das Parlament auf. Beim Thema Sprache setzt er auf Toleranz.


Kiew. Es war dann doch ein wenig anders als in der TV-Serie "Diener des Volkes". In dieser fuhr der überraschend gewählte neue ukrainische Präsident Wassili Holoborodko, gespielt von Wolodymyr Selenskyj, zur Amtseinführung statt in der Präsidentenlimousine in einem ziemlich heruntergekommenen Taxi vor. Dann schwindelte er sich an dem üblichen Ehrenspalier vorbei, um ein paar Worte an die Bevölkerung zu richten - bewusst gesetzte Gesten der Bescheidenheit, wie man sie sonst von Papst Franziskus kennt.

Ganz so konnte das Selenskyj bei seiner eigenen Angelobung am Montag nicht umsetzen. Dennoch war die Amtseinführung des jugendlich wirkenden 41-Jährigen weit von dem liturgischen Prunk entfernt, der im Nachbarland Russland zu solchen Anlässen entfaltet wird. Frei, locker und unmilitärisch ging der geübte Showman Selenskyj in Richtung des Parlaments, bejubelt von seinen hauptsächlich jungen Anhängern. Er verteilte Küsse, klatschte mit seinen Fans ab und ließ sich auf Selfies ablichten, ehe er nach der Vereidigung den "Bulawa", das ukrainische Hoheitszeichen, überreicht bekam - eine Art Szepter, das auf die Kosaken zurückgeht.

In seiner Antrittsrede appellierte Selenskyj vor allem an die Einheit des historisch oft geteilten Landes. "Niemand ist ein besserer oder schlechterer Ukrainer - wir sind alle Ukrainer, von Uschhorod bis Luhansk, von Tschernihiw bis Simferopol", sagte Selenskyj.

Kritik an Ex-Regierung

Damit erhob er erstens Anspruch auf die verloren gegangenen Gebiete auf der Krim und im Donbass. Und zweitens signalisierte er dem sehr großen russischsprachigen Teil der Ukraine wie auch den Menschen auf der Krim und im Donbass: Auch ihr gehört zu uns. Ich bin auch euer Präsident.

Dieses Programm Selenskyjs unterscheidet ihn deutlich von der eher nationalistisch orientierten Politik seines Vorgängers Petro Poroschenko. Der hatte auf eine forcierte Ukrainisierung des Landes gesetzt - sprachlich, kulturell und religiös. Das hatte in dem ohnehin unter gewaltigem Druck stehenden Land zusätzliche Gräben aufgerissen - wie etwa das umstrittene, kürzlich verabschiedete Sprachengesetz, das allen Beamten, Lehrern, Ärzten und Anwälten den Gebrauch des Russischen untersagt. Diese Politik hatte es auch dem Kreml leicht gemacht, die Regierung in Kiew als "ukra-faschistisch" zu brandmarken.

Selenskyj schlug am Montag einen ganz anderen Ton an. Er kritisierte die Vorgängerregierung, die in den letzten Tagen endgültig zerfallen war. Sie habe nichts dafür getan, dass sich die Menschen im Donbass als Ukrainer fühlten, sagte der 41-Jährige in seiner Rede, die er zum Teil sogar auf Russisch hielt.

Neuwahlen im Juli?

Der erste Schritt Selenskyjs bei seiner Antrittsrede am Montag war die Auflösung des Parlaments, in dem er derzeit naturgemäß keine Mehrheit hat. Der neue Präsident kündigte Neuwahlen in zwei Monaten an - ob sich das auch umsetzen lässt, ist freilich noch unklar. Dem Entscheid war ein Konflikt mit dem Parlament vorausgegangen. Im Herbst wären allerdings ohnehin Neuwahlen angesetzt gewesen.

Die Neuwahl-Entscheidung ist auch nicht ganz ohne Risiko für Selenskyj: Seine Partei "Diener des Volkes" - eine komplett neue Gruppe, die lange nur auf dem Papier existierte - führt zwar in den Umfragen. Auch die Aussicht, dass die positive Meinung, die viele Ukrainer von Selenskyj haben, rasch wieder umschlagen könnte, legt einen baldigen Wahltermin nahe. Andererseits hätte ein späterer Wahltermin im Herbst für Selenskyj den Vorteil gehabt, dass er in Ruhe Kandidaten für seine Partei finden hätte können- zum gegenwärtigen Zeitpunkt könnte es schwierig für seine Leute sein, sich gegen die arrivierte, in den Regionen gut verankerte Konkurrenz zu behaupten.

Und der Präsident braucht eine ihm wohlgesinnte Regierung. Denn das ukrainische System ist ein Kompromiss aus einer parlamentarischen und einer Präsidialdemokratie. Zwar kann der Staatschef die Leitlinien der Außenpolitik vorgeben und wichtige Posten besetzen, etwa im Geheimdienst. Für die Wirtschaftspolitik ist allerdings die Regierung zuständig. Und Wirtschaftspolitik ist gerade in der Ukraine wichtig: Im Wahlkampf wurde neben dem Thema Korruption und der Hoffnung auf eine Beendigung des Krieges vor allem über die hohen Gaspreise diskutiert. Verantwortlich gemacht dafür wurde in erster Linie Poroschenko - obwohl er dafür gar nicht zuständig war.