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Eine Reise durch ein Syrien, in dem die Hoffnung wieder lebt

Von Thomas Seifert aus Manbidsch (Text und Fotos)

Politik
© Thomas Seifert

Die Menschen in Syrien leben immer noch mit dem Trauma des IS-Regimes und der Angst vor dem Terror der Dschihadisten, aber zumindest im kurdisch dominierten Teil des Landes gibt es Anzeichen auf eine Normalisierung.


Manbidsch/Kobane. Wie Zahnstocher sind die dicken Stahlbetonträger umgekippt, wie ein Stück mürbe gewordenen Fladenbrots liegt das zusammengestürzte Flachdach nun direkt auf dem Boden des dritten Stocks des Gebäudes. Bombentreffer. Eine zweite Bombe traf das Stiegenhaus, das ab dem zweiten Stock in sich zusammengestürzt ist. Eine weitere ließ die dicke Betondecke aufplatzen, die Stahlbewehrungen ragen grotesk verbogen aus dem Beton hervor. Und die Wucht der Explosion einer dritten Bombe zerfetzte Dach und Boden des darunterliegenden zweiten Stocks.

Wo früher eine Schule war, ist jetzt nur mehr eine Ruine.

Willkommen in Manbidsch, einer strategisch wichtigen Stadt im Nordosten Syriens. Die Stadt wird seit August 2016 wieder von den Kräften der kurdisch-arabischen Allianz SDF (Syrian Democratic Forces) kontrolliert, davor war die Stadt jahrelang unter dem Joch des sogenannten Islamischen Staats IS. Manbidsch liegt nur 30 Kilometer östlich von Aleppo. Gleich hinter der Stadt beginnt das Territorium, das von den Regierungstruppen von Bashar al Assad gehalten wird, in die frühere "Hauptstadt" des IS, Raqqa sind es mit dem Auto nur 135 Kilometer in Richtung Südosten. Die Lage ist dementsprechend unübersichtlich - und gefährlich: In Manbidsch befindet sich eine US-Militärbasis, doch die SDF fürchten die mit den USA verbündeten Türken mehr als Bashar al Assad. Man ist zwar auf Autonomie bedacht, lehnt aber den syrischen Staat nicht ab, Kurden, Araber und Turkmenen leben in der Stadt zusammen. Nicht weit von Manbidsch - auf Assads Territorium - sind auch russische Truppen stationiert. Ein komplexes Leopardenfell-Muster aus Loyalitäten, Machtbalancen und Militärallianzen, das nicht einmal ein Lawrence von Arabien der Gegenwart deuten kann.

In der Ecke des L-förmigen Schulgebäudes führen die Stufen einer von Schutt teilweise begrabenen Treppe ins Gebäude, zwei Motorräder stehen rechts vor dem Eingang. Eine Türe gibt es nicht, stattdessen hängt ein braungestreiftes Laken an einer roten, vor dem Tor gespannten Schnur. Kinder lugen schüchtern ins Freie, zuerst fünf, dann werden es mehr, am Ende versammelt sich eine Kinderschar von neun Kindern im Eingangsbereich.

Im Schulgebäude leben seit vier Monaten 13 Familien mit 35 Kindern aus dem zwischen Aleppo und Raqqa gelegenen Städtchen Maskanah, Wäsche hängt an einer Leine zum Trocknen, eine verwaschene grüne Adidas-Trainingshose, Kinderhemden und winzige Strampelanzüge für die kleinsten.

Ahmed Ramazan ist das Familienoberhaupt einer jener Familien, die hier leben. Sein dunkler Bart ist sauber getrimmt, er trägt einen blauen Thawb, das traditionelle und für die Region typische knöchellange, luftige Baumwollgewand. Ramazan ist ein freundlicher, ruhiger Mann: wuscheliges Haar, dicke Augenbrauen. Doch der Blick seiner braunen Augen ist müde geworden - es ist nicht leicht, heute in Syrien eine Familie mit Gelegenheitsjobs durchzubringen. Er lebt mit seiner Familie in diesem zerstörten Schulgebäude, doch die Kinder gehen in keine Schule - vielleicht wird ja im kommenden Schuljahr etwas daraus, hofft er. Ein wenig Lesen und Schreiben können die Kinder ja, sagt er. Zuerst ist Ahmed Ramazan aus dem von der Regierung kontrollierten Gebiet geflohen, um nicht zur Armee eingezogen zu werden. Und vor vier Monaten ist er von Maskanah nach Manbidsch gekommen, "weil es in Maskanah keine Arbeit gibt." Also lebt er nun mit seiner Familie in dieser Ruine.

Ist es nicht gefährlich, in einem teilweise eingestürzten Gebäude - ohne Strom, ohne Fließwasser - zu leben? "Kismet. So ist unser Schicksal. Wir haben keine Wahl - wir haben sonst hier kein Dach über dem Kopf. Allah wird auf uns aufpassen", sagt er.

Tarnen, Täuschen gegen den IS

Allah hat auch auf Abid al-Mihbash aufgepasst. Er hat in Raqqa vier Jahre unter der Herrschaft des IS gelebt. Eine entsetzliche, schreckliche Zeit, sagt er, die er mit List, Täuschung und einer gehörigen Portion Anpassungsfähigkeit überlebt hat. Abid al-Mihbash ist heute über sich selbst verwundert: Er habe einen langen Bart getragen, einen knöchellangen Thawb. Seine Frau habe eines Tages zu ihm gesagt: "Du siehst ja schon aus, wie ein Emir vom Islamischen Staat." Heute kann Abid al-Mihbash darüber lachen - doch in den Jahren der IS-Herrschaft war Mimikry eine Frage von Leben und Tod. "Ich habe so getan, als wäre ich mit Überzeugung dabei. In Wahrheit habe ich nie an das Kalifat oder den IS geglaubt." An die strengen und teils lächerlichen Regeln des IS hat er sich genauestens gehalten. "Die erste Entscheidung von Daesh, dem IS, war, die Schulen zu schließen und sie zu Koranschulen umzuwandeln. Ich habe mir angesehen, was dort passiert. Die Buben waren für sie die ‚Söhne des Kalifats‘."

Jahrelang hatte der IS die Kontrolle über Raqqa: Mitte 2013 wurde die Stadt von der al-Qaida-nahen Miliz al-Nusra-Front und dem IS eingenommen, die Freie Syrische Armee, die zuvor die Truppen von Bashar al-Assad zurückgedrängt hatte, wurde von den Dschihadisten vertrieben. Raqqa war von diesem Zeitpunkt an die größte Stadt unter IS-Kontrolle - bis der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi am 29. Juni 2014 in der großen an-Nuri-Moschee in Mossul (Irak) öffentlich das Kalifat ausrief, an deren Spitze er als selbst ernannter "Kalif Ibrahim" stehen sollte. Es dauerte bis 9. Juli 2017 bis Mossul von irakischen Truppen zurückerobert war und im Oktober 2017 war schließlich die Operation "Zorn des Euphrat" - so lautete der Codename der Militäroffensive zur Befreiung von Raqqa - beendet. Nach einem Bericht der Beobachtergruppe "Airwars" wurden allein in den letzten vier Monaten der Militäroffensive 1400-2000 Zivilisten in Raqqa getötet. Amnesty International trug damals Berichte von den Einzelschicksalen zusammen, etwa jene vom langsamen Sterben von drei unter den Trümmern ihres zusammengestürzten Hauses begrabenen Bombenopfern. Oder der Geschichte einer Familie, von der 39 Mitglieder ausgelöscht wurden.

Die Zivilisten waren damals weitgehend schutzlos, aber der IS hat sich auf die Offensive gegen Raqqa gut vorbereitet. "Sie haben Tunnel gegraben, Barrikaden errichtet und nach Wasser gebohrt. Sie haben Raqqa zur Militärzone gemacht, um die Stadt möglichst lange halten zu können", erzählt Abid al-Mihbash.

All die Opfer seien nicht umsonst gewesen, sagt Abid al-Mihbash, dessen drei Häuser bei den Kämpfen zerstört wurden. "Ich hatte drei Häuser in Raqqa, eines wurde vom IS in ein Feldspital umgewandelt, ein anderes als Verwaltungsgebäude genutzt. Daesh hat meine Häuser - von denen ich zwei vermietet habe - konfisziert. Am Ende wurde ich sogar aus meinem eigenen Haus vertrieben. Aber ich klage nicht, dass meine drei Häuser bombardiert und zerstört wurden - denn der IS ist weg. Wir hatten kein Leben unter dem IS. Sogar Kleinigkeiten wie Fernsehen, Radio, Zigaretten, alles war verboten. Wir hatten keine Freiheiten." Das Terror-Regime des IS musste gestürzt werden und das sei eben nur mithilfe der US-Bomben gegangen. Die Allianz der Bodentruppen aus kurdischen Kämpfern, sunnitisch-arabischen Milizen, turkmenischen Einheiten und christlichen Assyrern hätte das alleine nicht geschafft. Als die Befreier die Stadt eingenommen haben, hat er sich ihnen angeschlossen. Im Jänner 2018 wurde er Co-Vorsitzender des Zivilrats von Raqqa, so die offizielle Bezeichnung für seine Funktion, die in etwa jener eines Bürgermeisters entspricht. Das Führungsmodell in Nord-Ost Syrien - von den Kurden Rojava genannt - ist durchaus interessant: Auf den unterschiedlichen Führungsebenen arbeiten immer eine Frau und ein Mann zusammen.

Die Situation in Raqqa ist aber auch heute instabil. Erst vor wenigen Tagen starben fünf Soldaten und fünf Zivilisten bei einem Selbstmordanschlag auf einen SDF-Checkpoint, 20 Weitere wurden verletzt. In Raqqa und Deir ez-Zour sollen noch IS-Schläferzellen aktiv sein, die nur auf den Befehl warten, Anschläge auszuführen. An den Checkpoints werden viele der SDF-Security Leute ermordet, sagt Mihbash: "Mit den Anschlägen will der IS ein Lebenszeichen von sich geben. Der Islamische Staat ist noch immer eine ständige Bedrohung. Etwa werden jetzt zur Erntezeit die Felder der Getreidebauern in Brand gesteckt. Auch das ist Teil der Terror-Taktik des IS."

Um den IS endgültig zu besiegen, müssten die Schläfer-Zellen bekämpft werden, sagt Mihbash. Außerdem brauche es Deradikalisierungsarbeit und ein Gericht, das die 6000 gefangenen IS-Kämpfer nach und nach aburteile. Es gebe noch viel zu tun - viel Positives sei aber bereits gelungen, sagt Abid Mihbash. Wer - anders als er - genug Geld habe, hat sein Haus wieder aufgebaut. Und der Markt in Raqqa sei heute wieder belebt wie vor der IS-Zeit. Es gibt Hoffnung, dass die Normalität Stück für Stück zurückkehrt.

Wendepunkt Kobane

"To be or not to be" hat jemand auf eine Hausmauer in der rund 60 Kilometer von Manbidsch entfernten Stadt Kobane gesprüht. Bei William Shakespeares "Hamlet" geht es um Mord, Rache und Intrigen. In Kobane ging es Mitte 2014 um Kampf, Krieg und Tod - für die Menschen in der Stadt ging es um Sein oder Nichtsein. In monatelangen Kämpfen zwischen kurdischen Milizen und ihren Verbündeten und dem IS verloren mindestens 541 Soldaten und 213 Zivilisten ihr Leben, auf Seiten des IS starben 1325 Dschihadisten. Vor den Toren der Stadt erinnert heute ein Soldatenfriedhof an die Opfer im Kampf gegen den Islamischen Staat. In dichten Reihen stehen die Gräber, auf den Marmorsteinen sind die Namen und Geburtsdaten eingraviert: 1987, 1990, 1984. Die Todesdaten liegen dicht beisammen: 11.05.2015, 3.1.2015, 25.06.2015. Auf einigen Marmorsteinen, etwa auf jenem von "Sehid", also "Märtyrerin" Ruken Sipan, "geboren 1993, gefallen Oktober 2014 in Kobane" ist auch ein Bild angebracht.

Der Wiener Universitätslektor, Journalist, Kurden-Experte und Buchautor Thomas Schmidinger war im Jahr 2015, kurz nach der Zurückschlagung des IS im völlig zerstörten Kobane: "Der Wiederaufbau in der Stadt ist schnell angelaufen, weil die Stadt zum Symbol für den kurdischen Widerstand gegen den IS geworden ist. Kobane war damals der Wendepunkt - fast das gesamte Territorium war damals vom IS besetzt, die kurdischen Kämpfer hielten nur ein paar Straßenzüge im Zentrum." Der Abgeordnete zum Europaparlament Josef Weidenholzer war damals mit Schmidinger in Kobane. Nun steht er in der Abendsonne auf einem vor der Stadt liegenden Hügel: Man hört das monotone Dröhnen von Baumaschinen und das Klopfen, Surren und Kreischen von Presslufthämmern, Sägen und Schleifmaschinen. "Ich habe die Bilder der Zerstörung von Kobane von damals noch auf meinem Smartphone. Das war eine Trümmerlandschaft. Jetzt ist wieder überall Leben eingekehrt, der Wiederaufbau ist schon beinahe abgeschlossen. Die Leute hier haben sich zusammengefunden und sind bereit zuzupacken. Ich wünsche den Menschen hier alles Gute, sie geben ein positives Zeichen, dass es möglich ist, gemeinsam etwas zu ändern."

Zeinab Mustafa Ahmad ist einer dieser zupackenden Menschen von Kobane. Ihr Haus war zerstört und ist mittlerweile wiederaufgebaut. Die Familie floh vor den Kämpfen in die Türkei, gleich nach der Rückkehr begannen Zeinab und ihr Mann mit der Reparatur des Hauses. Jetzt betreibt sie seit einem Jahr einen kleinen Laden gleich gegenüber vom Kreisspital der Stadt. Es gibt Honig, Marmelade, Kekse, Cola oder Limonade zu kaufen. "Vor dem Krieg war ich zuhause bei meinen Kindern, jetzt arbeitet mein Mann und ich gemeinsam, damit wir uns ein neues Leben aufbauen können", sagt Zeinab Mustafa Ahmad. Die Geschäftsfrau vermittelt den Eindruck, als sei sie mit ihrer heute aktiveren Rolle durchaus zufrieden.

Die Lage im Land ist verworren, Frieden und Stabilität sind derzeit nicht in Sicht. Aber im Nordosten des Landes gibt es zumindest einen Funken Hoffnung. Der Wiederaufbau schreitet voran, die Politiker in diesem Teil des Landes träumen von einem säkularen, föderalen neuen Syrien, die Bürgerinnen und Bürger wollen Dinge wie Spitäler und Schulen. Und vor allem eines: Frieden.

Die Reportage-Reise wurde vom Europaparlament unterstützt.