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Mehr als 200 Festnahmen bei Protesten

Von WZ Online

Politik

Unter den Verhafteten befindet sich auch der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny und ein "Spiegel"-Reporter.


Moskau. Bei einem Protestmarsch gegen Polizeiwillkür sind in Moskau mehr als 200 Menschen festgenommen worden, darunter der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny. Die Teilnehmer des friedlichen Protestmarschs am Mittwoch riefen Slogans wie "Schande!" und "Stoppt Polizeiterror!". Unter den Festgenommenen war nach Angaben des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" auch ein "Spiegel"-Mitarbeiter.

Der nicht genehmigte Protestzug war ursprünglich als Solidaritätsveranstaltung für den Enthüllungsjournalisten Iwan Golunow geplant, der wegen angeblichen Drogenhandels festgenommen und unter Hausarrest gestellt worden war, ehe das Verfahren am Dienstag überraschend eingestellt wurde. Beobachter werteten Golunows Freilassung als Versuch, eine seit seiner Festnahme laufende beispielsweise Protestwelle zu beenden.

Der Protestmarsch fand am russischen Nationalfeiertag statt. Augenzeugen sprachen von Dutzenden Festnahmen. Während Demonstranten in Polizeiwagen gezogen wurden, rief die Menge: "Schande, am Russland-Tag! Habt ihr die Verfassung vergessen?" Ein festgenommener Demonstrant zeigte aus dem Fenster eines Polizeiautos ein Plakat mit der Aufschrift "Ich bin Iwan Golunow".

Golunow-Freilassung als Vorbild

Die Machthaber in Moskau hätten "furchtbare Angst" vor der "fantastischen Solidarität" im Fall Golunow, erklärte Oppositionsführer Nawalny. Daher zielten sie darauf ab, "zuerst die allgemeine Solidarität zu zerstören" und dann alle jene "einzuschüchtern und festzunehmen", die nicht nachgäben. Vorgehensweisen der Polizei wie im Fall Golunow seien "im ganzen Land an der Tagesordnung", beklagte Jegor, ein 15-jähriger Teilnehmer der Kundgebung. Gefälschte Darstellungen über Drogenbesitz von missliebigen Bürgern kursierten überall. Es gebe "viel Ungerechtigkeit", beklagte die 83-jährige Ex-Ingenieurin Ljudmila.

Laut "Spiegel" wurde dessen Mitarbeiter Alex Tschernyschew festgenommen, obwohl er sich als Journalist ausgewiesen habe. Insgesamt wurden mindestens vier Journalisten festgenommen. In St. Petersburg gab es ebenfalls eine Protestkundgebung mit rund hundert Teilnehmern. Sie forderten unter anderem die Freilassung des inhaftierten Historikers Juri Dmitrijew. "Wir sollten den Fall Golunow nutzen, um auf andere aufmerksam zu machen", forderte der Abgeordnete Maksim Resnik.

Die Festnahme des Investigativ-Journalisten Golunow hatte eine Welle des Protests in der russischen Bevölkerung ausgelöst. Zahlreiche russische Kollegen Golunows und internationale Organisationen verurteilten das Vorgehen der Behörden. Drei große russische Tageszeitungen waren am Montag mit der Schlagzeile "Ich bin Iwan Golunow" auf der Titelseite erschienen.

Golunow, der für das unabhängige Investigativ-Portal "Meduza" (Medusa) arbeitet, war am Donnerstag vergangener Woche festgenommen worden. Am Samstag ordnete ein Haftrichter zwei Monate Hausarrest an. Golunow bestritt die Vorwürfe. Die Drogen seien ihm untergeschoben worden.

Der 36-Jährige gab zudem an, im Polizeigewahrsam gefoltert worden zu sein. Am Dienstag teilte Innenminister Wladimir Kolokolzew überraschend mit, die Ermittlungen würden eingestellt und der Hausarrest aufgehoben. Ein derartiges Einlenken gegenüber öffentlichen Protesten kam in den vergangenen Jahren in Russland nur selten vor.

Nach Einschätzung von Kritikern folgte der Fall einem bekannten Muster, wonach Drogen-Vorwürfe konstruiert werden, um Menschenrechtsvertreter und kritische Journalisten in Russland mundtot zu machen. Dass solche Ermittlungen wieder fallengelassen werden, ist äußerst ungewöhnlich.

Während seiner zwei Jahrzehnte an der Macht hat der russische Präsident Wladimir Putin die meisten seiner Kritiker zum Schweigen gebracht. Er versuchte zudem, die Presse mundtot zu machen. Die wenigen kritischen und unabhängigen Medien, die noch in Russland aktiv sind, stehen laut Kreml-Kritikern unter großem Druck. Das Investigativ-Portal "Meduza" hat seinen Sitz in Lettland, um die russische Zensur zu umgehen. Einige seiner Mitarbeiter leben jedoch in Russland. (apa, afp, reuters)