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Das Kalifat ist tot, der Islamische Staat lebt

Von Markus Schauta

Politik

Die Lage in Mossul bietet weiterhin Raum für extremistische Bewegungen wie den IS.


Mossul/Wien. Das Kalifat ist zerschlagen. Mit dem Dorf Baghuz fiel im heurigen März die letzte Dschihadisten-Bastion im Osten Syriens. Wo sich das Kalifat einst auf einer Fläche so groß wie Großbritannien von Syrien bis in den Irak ausdehnte, liegen die Hochburgen der Dschihadisten heute in Trümmern, sind die Flaggen der Terrormiliz von ihren Masten gerissen. Im März verkündete US-Präsident Donald Trump, dass der Islamische Staat (IS) "zu hundert Prozent" besiegt sei.

Doch das Ende des Kalifats bedeutet nicht das Ende der Terrororganisation. Die wichtigsten Kader wurden in Sicherheit gebracht. Tausende IS-Kämpfer sind untergetaucht, leben im Irak, in Syrien oder anderswo. Im Frühjahr 2019 kamen deutliche Lebenszeichen vom IS: der verheerende Bombenanschlag auf eine christliche Kirche in Sri Lanka, ein vereitelter Anschlag in Riad und eine Videobotschaft vom selbsternannten Kalifen Al-Baghdadi, in der er weitere Anschläge ankündigt. Nach wie vor sind die Dschihadisten in den Sozialen Medien aktiv, verbreiten politische Propaganda und ihre Lesart des Islam. Der Kreis schließt sich. Nach dem Erstarken der Terrororganisation nach 2003, der Eroberung Mossuls 2014 und den Kalifat-Jahren agiert der IS nun wieder als Guerilla-Organisation.

Von Al-Kaida zum IS

Die irakische Analystin Rasha Al-Aqeedi sagt in einem Interview im Podcast "Popular Front", dass der IS weiterhin als kriminelles Netzwerk in Mossul operiere. Immer wieder würden Autobomben Menschen töten und verletzen. Der IS sehe, dass die Bevölkerung von Mosul mit der Situation unzufrieden sei, so Al-Aqeedi: Große Teile der Stadt lägen immer noch in Trümmern, Arbeit gebe es keine. Die Dschihadisten-Miliz könne das für sich nutzen. Sicher, die Niederlage von 2014 sei ein harter Schlag gegen die Terrororganisation gewesen. Es sei schwierig für sie, sich zu reorganisieren und zu sammeln. "Aber je länger die Probleme ungelöst bleiben, desto größer ist die Gefahr, dass der IS die Situation ausnutzt, wie er es bereits zuvor gemacht hat."

Wir erinnern uns: Nach dem US-Angriff auf den Irak 2003 gründete sich Al-Kaida im Irak (AKI). 2006 gelang es dieser Vorgängerorganisation des IS, Mossul für etwa eine Woche unter ihre Kontrolle zu bringen. Die sunnitischen Extremisten riefen das Islamische Emirat Irak aus. Eine Woche lang wehten ihre Flaggen in der Stadt, bevor irakische Sicherheitskräfte Mossul wieder unter ihre Kontrolle brachten. Im Juni 2014 wiederholte der IS, was AKI acht Jahre zuvor gelungen war. Die Geschichte, wonach ein paar hundert Dschihadisten auf Pick-ups Mossul im Sommer 2014 einnahmen, ist allerdings nicht mehr als eine medienwirksame Legende. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits tausende Anhänger und Unterstützer des IS in Mossul, die die Übernahme der Stadt ermöglichten.

Unzufriedene Bevölkerung

2006 ebenso wie 2014 spielte den Extremisten die Unzufriedenheit der Bevölkerung in die Hände. Der Grundstein für ihren Erfolg waren Fehlentscheidungen der Besatzungsmacht USA. Nicht nur wurden tausende Offiziere aus der irakischen Armee entlassen, sondern sämtliche höheren Beamten, die Mitglieder von Saddam Husseins Baath-Partei waren. Viele dieser Unzufriedenen schlossen sich den Dschihadisten an oder sympathisierten mit ihnen. Hinzu kam, dass große Teile der sunnitischen Bevölkerung sich von der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad übergangen sahen. In den Augen vieler Sunniten war der IS das einzige sunnitische Bollwerk in einem vom Westen besetzten und von Schiiten regierten Irak.

Die Situation ist heute ähnlich wie 2006 und 2014. Die gesellschaftspolitischen Spannungen haben sich nicht aufgelöst. Nach wie vor sind eine autokratische Regierung und geldgierige Eliten Motor für Korruption, Polizeiwillkür und Misswirtschaft. Viele Sunniten erleben die Verhaftungen im Zuge der Suche nach IS-Mitgliedern als willkürlich, die Prozesse als unfair. Verteidiger werden nicht angehört, vorgebrachte Erklärungen, die gegen eine Mitgliedschaft sprechen, oft nicht überprüft. Es ist davon auszugehen, dass sehr viele Unschuldige weggesperrt oder gar hingerichtet werden. Spricht man mit den Menschen in Mossul, erfährt man rasch, dass die militärische Befreiung der Stadt noch lange nicht zu sozialem Frieden geführt hat: Der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. Wegen Korruption und Misswirtschaft kommt zu wenig Geld dort an, wo es gebraucht wird. Und so wie vor 2014 erpressen nach wie vor Vertreter von Armee und Milizen Schutzgelder von der Bevölkerung.

Wenn die politisch Verantwortlichen den Wiederaufbau, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und die Herstellung von Rechtssicherheit nicht vorantreiben, ist die Gefahr groß, dass Extremisten sich neu formieren und erstarken. Egal, wie sie sich nennen.