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Die Mappen des Grauens von Faris Yusef Jajo, dem Simon Wiesenthal des Irak

Von Thomas Seifert aus Erbil

Politik
Faris Jusef Jajo in seinem Dokumentationszentrum in Erbil, Irak.
© Thomas Seifert

Der frühere irakische Wissenschaftsminister sammelt Protokolle, die die Verbrechen des IS im Irak und in Syrien dokumentieren. Er träumt von einem Strafgerichtshof, der die Täter verfolgt und die Opfer sühnt.


Erbil. Nach großen Menschheitsverbrechen braucht es Persönlichkeiten, die sich auf die Suche nach Gerechtigkeit machen. Menschen, die das Grauen dokumentieren, die den Opfern Gehör schenken und die Täter auf die Anklagebank bringen.

Menschen wie Faris Yusef Jajo, ein chaldäischer Christ aus Alqosh, im Irak. Jajo war von 2014 bis 2018 unter Premierminister Haider al-Abadi irakischer Minister für Wissenschaft und Technik und leitet nun die Nichtregierungsorganisation "Shlomo - Zentrum für Dokumentation", die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Verbrechen der Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) im Irak und Syrien zu recherchieren und zu dokumentieren.

Wenn man Jajo in seinem Büro im christlichen Stadtteil Ankawa in der nordirakischen Stadt Erbil besucht, dann erinnert vieles vom Ambiente im Haus von Jajos Organisation an das Büro von Simon Wiesenthal im ersten Bezirk in Wien. Rote und blaue Ringordner, Dokumentenkisten, Landkarten. In Wiesenthals Büro gab es Bücher, Ordner und Aktenkartons.

Faris Yusef Jajo steht mit seiner Arbeit auch in der Tradition Wiesenthals: "Recht, nicht Rache" war der Leitspruch des Nazijägers, der eine wichtige Rolle bei der Ergreifung von Adolf Eichmann spielte. Eichmann war einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von sechs Millionen Juden.

Die Menschheit verfällt regelmäßig in grausamen Blutrausch, doch immerhin gilt heute als ausgemacht, dass dem Verbrechen Strafe folgen muss. Nach dem grausamen Genozid an den Tutsi durch Hutu-Milizen in Ruanda im Jahr 1994 wurde ein Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) eingerichtet, der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien urteilte vom 25. Mai 1993 bis zum 31. Dezember 2017 84 Kriegsverbrecher ab. Das gibt Menschen wie Faris Yusef Jajo Hoffnung, dass eines Tages auch die Verbrechen des Islamischen Staates (IS) gesühnt werden.

Die Organisation Shlomo nahm am 12. Jänner 2016 seine Tätigkeit auf, Shlomo begann mit der Dokumentation von Verbrechen, die der Islamische Staat an Christen, Jesiden und Vertretern anderer religiöser Minderheiten im Irak und Syrien begangen hat. Bis dato haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 32.814 Zeugenaussagen gesammelt, insgesamt wurden Berichte über insgesamt 11.584 Familien, die Opfer des IS wurden, angefertigt.

Jajo greift einen Ordner mit Zeugenaussagen heraus: A.A.M., geboren im Jahr 2000, Geschlecht: Männlich. A.A.M. stammt aus Bartella, 25 km östlich von Mosul. Datum der Tat: 9.6.2014. Täter: IS. Die seitenlange Zeugenaussage ist am Ende kurz zusammengefasst: Mutter gefoltert, A.A.M. selbst in aller Öffentlichkeit geschlagen und gefoltert. Zum Übertritt zum Islam gezwungen. Beide haben schwere psychische Traumata erlitten. "Ich fühle mich die ganze Zeit wie tot und versklavt. Mein psychischer Zustand ist immer noch schlecht, ich verspüre bis heute Furcht. Wir wissen nicht, wie wir jemals wieder ein normales Leben hier führen sollen", gibt A.A.M. zu Protokoll.

Jajo blättert weiter: Z.B.D.M., geboren 1936, weiblich aus Karakosch (20 km Luftlinie südöstlich von Mosul): Die drei Seiten umfassende Zeugenaussage ist in einer fünf Absätze umfassenden Punktation zusammengefasst: 1. Physische Gewalt und Folter. 2. Psychische Gewalt - Schlimmer als die Physische. 3. Zwang zum Übertritt zum Islam durch Gewalt und Drohungen. 4. Raub des gesamten Geld- und Goldbesitzes. 5. Isolation von den Eltern und Verwandten, Leben unter schrecklichen Bedingungen.

Die Ringordner sind alle voll mit diesen Berichten: in den roten Ordnern Fälle aus Karakosch, in den blauen Fälle aus Mosul.

Die Zusammenfassungen der Gedächtnisprotokolle sind schlimm genug, wenn man die protokollierten Aussagen liest, wird der ganze Horror, den die Menschen unter der IS-Herrschaft erleiden mussten, deutlich: K.M.A.Y., Geburtsjahr: 1984. Geschlecht: Weiblich. Region: Mosul. Datum der Tat: 6. Juni 2014. Täter: ISIS. "Als die Terrorgruppe Islamischer Staat - Daesh - im Irak am 9. Juni 2014 Mosul nahm, hatten wir ein Gefühl von Angst und Verzweiflung.

Mein Mann war verschwunden. Ich ging in eines der Büros des Islamischen Staates in Mosul und fragte nach meinem Mann. Der Verantwortliche dort sagte mir, dass mein Mann nicht in der Gewalt des IS sei und sie auch nichts über ihn wüssten.

Der Mann dort fragte mich nach meinem Namen. Er sah, dass sich ein Kreuz-Tatoo auf meiner Hand hatte. Ob ich denn Christin sei? Ich sagte: ,Ich bin auf der Suche nach meinem seit drei Monaten vermissten Mann.‘

Was dann geschah, war, dass ich in die Al Yarmouk-Schule verschleppt wurde, wo bereits andere junge Frauen und Mädchen waren. Sie haben je rund 30 Mädchen in jede der insgesamt zwölf Klassen gesperrt. Die Mehrzahl der Mädchen waren Jesidinnen und Christinnen. Drei Dschihadisten bewachten uns ständig. In jeder Pause gaben sie uns etwas zu essen.

In eine der schlimmsten Nächte kamen drei fremde IS-Dschihadisten - deren Sprache wir nicht verstanden - in das Zimmer, in das sie uns gesperrt hatten. Sie suchten sich drei Mädchen aus. Mich, L., ein elfjähriges jesidisches Mädchen und A., ein anderes christliches Mädchen. Sie haben uns gezwungen, mit ihnen Sex zu haben. Wir haben uns gewehrt und wir haben sie angefleht, aber es war alles umsonst.

Acht Terroristen haben mich vergewaltigt. Diese Nacht war die schlimmste. Sie haben mir meine Würde genommen und mir das Leben zur Hölle gemacht."

K.M.A.Y. schildert in dem Protokoll, dass sie schließlich in Erfahrung bringen konnte, dass ihr Ehemann A.A.S. von den Schergen des Islamischen Staaten hingerichtet worden war. Seine Leiche hat man in den Euphrat geworfen. Einer der Wächter war aus derselben Nachbarschaft in Mosul, aus Yarmouk. Nachdem sie ihm verraten hatte, wo er bei ihr zuhause Gold und Wertgegenstände finden konnte und dafür gesorgt hatte, dass ihre Nachbarin ihm den Schlüssel zu ihrer Wohnung gab, hat der Wächter ihr zur Flucht verholfen: "Am nächsten Morgen stieg ich in einen von drei Bussen, jeder war mit rund 30 Passagieren besetzt. Die Busse fuhren mitten in der Nacht zu einer unbekannten Destination." Nach einigen Umwegen kam K.M.A.Y. daheim an: "Schließlich nahm ich ein Taxi nach Hause. Zu Hause sah ich dann meine zwei Kinder. Ich hab sie ganz fest umarmt. Danach habe ich wieder A. gebeten, mich aus Mosul in eine sichere Gegend zu bringen." Bei der Flucht aus dem vom IS besetzten Mosul ins Kurdengebiet mit ihrer Tochter M. und ihrem Sohn H. verlor sie bei einer Massenpanik in der Nähe der Grenze zum Kurdengebiet ihren Sohn aus den Augen. Sie hat bis heute nichts mehr von ihm gehört: "Heute lebe ich ständig voller Nervosität und Angst und Depression, weil ich meinen Sohn und meine Ehre als Mensch verloren habe."

Das Protokoll vermerkt trocken: "Rechtsverletzung: 1. Exekution meines Ehemanns A.A.S. 2. Verlust meines Kindes H.A. 3. Verlust meiner Würde und Ehre".

Shlomo-Gründer Faris Yusef Jajo klappt den Ordner zu und schiebt ihn wieder an seinen Platz. "Das hier ist der Ordner mit den Fällen, die wir für ein Strafgericht vorbereitet haben", sagt er. Die Fälle seien bestens dokumentiert, nur wenn die Täter eines Tages verfolgt werden, gebe es Gerechtigkeit und nur dann könne das Land weiterkommen.

Jajo hat neben den dutzenden Ordnern mit Opferprotokollen, von denen jedes einzelne eine menschliche Tragödie enthält, auch noch andere Dokumente, die den Schrecken des IS dokumentieren. Jajo holt einen anderen Ordner hervor, jenen, der Dokumente aus den Beständen des IS enthält. "Bismi’llahi r’ahmani ’rahim - Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes". Mit diesem Satz beginnt ein Dokument vom 21. Dhu al-Hijja 1435.

Was der Islamische Staat da am 16. Oktober 2014 im Namen Allahs verlautbart hat, kann keinem Gott gefallen.

Das Dokument ist eine Preisliste für Sklavinnen.

Die Kaufpreise für Christinnen und jesidische Frauen sind darin im Detail vermerkt: 75.000 irakische Dinar (rund 55 Euro) kostet eine Frau im Alter von 30-40 Jahren, 100.000 irakische Dinar (rund 75 Euro) eine Frau zwischen 20 und 30, 150.000 irakische Dinar (rund 112 Euro) für Frauen im Alter von 10 bis 20 Jahren.

Das Dokument schließt mit den Worten: "Niemand darf mehr als drei Frauen kaufen, außer Türken, Syrer und Ausländer, die aus Golf-Ländern stammen." Jajo hofft darauf, dass er all diese Dokumente eines Tages in einem Museum präsentieren kann. Denn vor allem armenische Christen, erklärt er, sehen die Morde und Verbrechen des IS in einem historischen Kontext: Zuerst der Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 durch das Osmanische Reich (dessen Kerngebiet später in der Türkei aufging), bei dem zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen zu Tode kamen. In diesem Jahrhundert habe sich die Geschichte wiederholt, meint Jajo.

Noch sind der Irak und Syrien nicht zur Ruhe gekommen: Bis die Menschen zurückgekehrt und die Ruinen wiederaufgebaut sind, werden Jahrzehnte vergehen. Noch länger wird es aber dauern, bis die psychischen Wunden, die der Krieg gerissen hat, verheilt sind. Für die Menschen, deren Schicksale in Faris Yusef Jajos Mappen aufgezeichnet sind, werden Narben bleiben. Für immer.