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"Die AKP erscheint abgenutzt"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Bei der Neuwahl in Istanbul hat Oppositionskandidat Imamoglu klar gewonnen. Entscheidend dafür war laut dem Türkei-Experten Cengiz Günay das positive Gegennarrativ des CHP-Politikers.


"Wiener Zeitung":"In Istanbul hat Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu nun auch die von Präsident Erdogan mehr oder weniger erzwungene Neuwahl gewonnen. Werden Erdogan und die Regierungspartei AKP diese Niederlage nun akzeptieren oder wird man versuchen, auch dieses Wahlergebnis ungeschehen zu machen?

Cengiz Günay: Der türkische Präsident ist ein Populist mit autoritären Tendenzen, aber er hat bisher auch immer sehr stark auf die Bedeutung von Wahlen gepocht. Denn Erdogan hat sich immer als durch die breite Wählerschaft legitimierter Volkstribun dargestellt. Durch die teils absurden Begründungen, die als Vorwand für die Neuausrichtung der Istanbuler Kommunalwahlen herhalten mussten, hat dieses Image aber zuletzt massiv gelitten. Erdogan wird das Wahlergebnis in Istanbul daher wahrscheinlich nicht noch einmal einmal anfechten. Durch das Präsidialsystem sind ihm allerdings Möglichkeiten gegeben, Kompetenzen von der Stadt- an die Zentralregierung zu übertragen - etwa mit dem Hinweis darauf, dass es eine Wirtschaftskrise gibt oder dass die Lokalregierung in Istanbul unfähig ist. Ob es tatsächlich so kommt, wird aber wohl von der politischen Konjunktur und der Stimmung im Land abhängen.

Imamoglu, der beim letzten Mal nur wenige tausend Stimmen vorangelegen war, hat diesmal seinen Vorsprung auf den AKP-Kandidat Binali Yildirim deutlich ausbauen können. Der CHP-Politiker kommt nun auf 54 Prozent und liegt damit fast 800.000 Stimmen voran. Was war Ihrer Meinung nach ausschlaggebend für diese doch sehr deutliche Verschiebung?

Imamoglu ist zu einem Opfer geworden und die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren ist, dürfte viele Menschen motiviert haben, jetzt erst recht für ihn zu stimmen. Hinzugekommen sind die Wirtschaftskrise und die Perspektivenlosigkeit des Regierungslagers, das zunehmend abgenutzt und inhaltsleer erscheint. Imamoglu hat es dagegen geschafft, Aufbruchsstimmung zu vermitteln. Er ist überhaupt auf nicht auf den Polarisierungsdiskurs der AKP eingestiegen, sondern hat ein Gegennarrativ erzeugt. Imamoglu hat immer von einer guten Zukunft und von Gerechtigkeit gesprochen. Damit hat er Erdogan viele Argumente aus der Hand genommen. Mit dieser Strategie konnte Imamoglu auch in konservativen Bezirken Istanbuls punkten. Eine wichtige Unterstützung waren zudem die Kurden. Die HDP-Stimmen sind massiv an Imamoglu gegangen.

Was hat Imamoglu besser gemacht als Muharrem Ince, der Spitzenkandidat der CHP bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2018? Trotz eines sehr leidenschaftlich geführten Wahlkampfes war Ince ja mit 15 Prozent Rückstand dann doch überraschend deutlich hinter Erdogan gelegen.

Ince erschien damals als eloquenter und guter Kandidat. Aber er ist auf diese Polarisierung eingestiegen. Und Ince hat vor allem jene mobilisiert, die ohnehin schon gegen Erdogan waren. Zudem hat er einen gewissen Revanchismus versprochen. So hat sich Ince mit offiziellen Vertretern des Staates angelegt und sie dafür kritisiert, zu wenig Distanz zur AKP zu haben. Und er hat versprochen mit solchen Dingen aufzuräumen, wenn er an die Macht kommt. Imamoglu hat solche Debatten dagegen überhaupt nicht geführt, er hat Leute, die dem Regierungslager bisher nahestanden, nicht verschreckt. Vielmehr ist er glaubwürdig auf sie zu gegangen. Ein Unterschied zu 2018 ist natürlich auch, dass die Wirtschaftskrise mittlerweile voll durchgeschlagen hat und die Leute das in ihren Taschen spüren.

Was bedeutet der Sieg Imamoglus für die türkische Politik der kommenden Jahre? Erdogan hat ja immer gesagt, wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.

Die Kommunalpolitik ist sehr wichtig in der Türkei, gerade in einer Stadt wie Istanbul, die die gesamte Türkei in sich vereint und wo Menschen aus allen Gegenden des Landes leben. Istanbul stellt auch die meisten Abgeordneten im türkischen Parlament. Ohne einer Mehrheit in Istanbul ist es schwierig, in der Türkei Wahlen zu gewinnen, und daher ist die Kommunwahl ein sehr wichtiges Zeichen. Sie hat gezeigt, dass es möglich ist, gegen die AKP zu gewinnen. Für die Zukunft heißt das, dass Erdogan und der AKP, die ja meisterhaft das Spiel des Populismus betrieben haben, die Konzepte und Strategien ausgehen. Der Abstieg der AKP ist bereits seit 2015 zu beobachten, Mehrheiten waren zuletzt ja nur noch durch das Bündnis mit den Nationalisten von der MHP möglich. Doch Erdogan und die AKP haben immer noch die Diskurshoheit in der Hand gehabt. Die Themen haben Erdogan und seine Partei vorgegeben, die anderen sind immer nachgehechelt. Jetzt hat sich das umgedreht. Die AKP versteht die Sorgen und Nöte vieler Menschen nicht mehr. Durch die starke Ausrichtung auf Erdogan und das Präsidialsystem ist die AKP zum Karrierevehikel geworden. Es herrscht ideologische Leere, die Partei ist zu reinen Mehrheitsbeschaffungsmaschine geworden.

Ist das Ergebnis in Istanbul vielleicht der Anfang vom Ende der politischen Karriere von Erdogan?

Die Macht ist noch da und sie ist nach wie vor massiv, aber es ist spürbar, dass sie bröckelt. Erdogan kann zwar noch immer mobilisieren, aber für ihn wird es nicht einfacher werden, sondern schwieriger.

Die türkische Börse hat angesichts des Wahlergebnisses stark zugelegt, ebenso die Lira. Reicht der Oppositionssieg in Istanbul schon, um das Vertrauen in die türkische Demokratie wiederherzustellen und verschreckte Investoren wieder zurückzuholen?

Internationale Investoren sind oft nicht so zimperlich, wenn es um Demokratie geht. Aber ich glaube, dass es ein kräftiges Zeichen dafür ist, dass es in der Türkei ein starkes demokratisches Potenzial gibt und das Pendel nicht nur immer weiter ins Autoritäre ausschlägt, sondern es auch zurückgehen kann.