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Nachrichten aus der Hölle Libyen

Von Cedric Rehman

Politik

Der Filmemacher Michelangelo Severgnini hält über den Messenger-Dienst Whatsapp Kontakt mit tausenden Migranten in Libyen. Die Botschaften zeichnen das erschreckende Bild eines Landes, in dem ein Menschenleben nichts wert ist.


Tunis/Tripolis. Das Smartphone auf dem Opaltisch in einer gemieteten Wohnung in der tunesischen Stadt Medenine gibt nur Freizeichen von sich. Michelangelo Severgnini wischt den Anruf weg und klickt einen neuen Kontakt in seinem WhatsApp-Adressbuch an. Die Verbindung baut sich auf, aber niemand hebt ab. "Hassan Libya" antwortet nicht, genau wie die anderen vor ihm. Severgnini versucht es nun bei "George Libya". Wieder ist nur das Freizeichen zu hören. Die Internetverbindung in dem nordafrikanischen Bürgerkriegsland ist unzuverlässig. Dann knackt es in der Leitung, jemand nimmt den Anruf an.

"Keiner will Afrikanern helfen"

"Hallo, hier spricht Miche, wo bist du? Wie geht es dir?", ruft Severgnini in die Freisprechanlage seines Mobiltelefons. Durch das Rauschen in der Verbindung nach Libyen erzählt George, wie die Miliz von Misurata ihm sein Geld abgeknöpft hat. "Sie kommen in unsere Unterkünfte und bedrohen uns." Er sei deshalb aus Misurata geflohen.

Severgnini führt seit April 2019 jeden Tag solche Gespräche mit Migranten, die in Libyen zwischen die Fronten geraten sind. Der 44-jährige Filmemacher aus Italien begann im vergangenen Jahr damit, über den Messenger-Dienst WhatsApp Kontakt zu tausenden Migranten in Libyen aufzubauen. Was er dafür benötigt, gibt die moderne Technik her. Severgnini will nicht allzu sehr ins Detail gehen. Er sorgt sich um die Sicherheit seiner Gesprächspartner in Libyen. Er verrät aber, dass er die Nummer von Menschen herausfinden kann, die sich in Libyen in Soziale Netzwerke einloggen. So sei es ihm gelungen, Berichte von Menschen innerhalb und außerhalb der Internierungslager für Migranten zu sammeln, erklärt er. Er veröffentlicht sie in einem Podcast im Internet. Dieser trägt den bezeichnenden Namen "Exodus".

George berichtet Severgnini etwa, dass er seinen Freund auf dem Weg zurücklassen musste. Ein Schuss traf ihn ins Bein. Kein Krankenhaus wollte einen Afrikaner behandeln, erzählt er. Was er getan hat, um die Schmerzen des Freundes zu lindern? "Ich habe ihm Wasser gegeben", erzählt George. Er sei nun in der libyschen Hauptstadt Tripolis, sagt er. Diese ist seit April umkämpft zwischen den Truppen der international anerkannten Regierung von Premierminister Fayez al-Sarraj und jenen des mehr oder weniger offen von Ägypten, Russland und Frankreich unterstützten Herrschers über den Osten Libyens, Khalifa Haftar.

"Weniger wert als Tiere"

Viel besser als in Misurata ergeht es George aber auch in Tripolis nicht. Die Regierungstruppen des Premierministers bestehen aus unzähligen Milizen. Sie sind während und nach der Revolution von 2011 gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi entstanden. An jedem der Checkpoints in der Hauptstadt verrät seine dunkle Hautfarbe nun den Südsudanesen George. Er wird versuchen, Arbeit zu finden. Nur mit Geld kann er die allmächtigen Milizen bestechen. Aber oft werde der Lohn in Libyen an Migranten nicht ausgezahlt, meint er. Warum denn auch, wenn die Afrikaner mit dem Gewehr im Nacken sie auch umsonst machen. Für George scheint nun alles vom nächsten Verdienst abzuhängen. Er sagt, er wisse, dass seine Überlebenschancen nicht gut seien: "Sie töten uns, als wären wir weniger wert als Tiere."

Die Erfahrung, dass ein Menschenleben im Bürgerkriegsland nichts zählt, haben fast alle Migranten in Libyen gemacht. So hat Severgnini noch in der der Nacht des Luftangriffs auf das Flüchtlingslager Tadschura bei Tripolis mit dutzenden Toten eine Nachricht von einem der Insassen geschickt bekommen. In dieser berichtet der Mann mit ruhiger Stimme von zwei Kampfjets, die am Mittwoch mehrere Raketen auf den Hangar abgefeuert haben, in denen die Migranten untergebracht waren. Diejenigen, die sich aus den Trümmern befreien konnten, hätten dann unter freiem Himmel darauf gewartet, dass irgendjemand ihnen zu Hilfe komme, berichtet der Augenzeuge. Severgnini veröffentlicht die Nachricht umgehend auf dem Videoportal "Vimeo". Dort kann nun jeder hören, was der Überlebende von Tadschura zu sagen hat.

Abhängig von den Milizen

Severgnini hat sich schon lange vor dem Ausbruch des jüngsten Konflikts mit der Lage der rund 700.000 Afrikaner in Libyen beschäftigt. Die Lage für die Migranten im Land änderte sich seinem Eindruck nach vor drei Jahren. Sarraj wurde im März 2016 Ministerpräsident einer international anerkannten Übergangsregierung. Die Hoffnung, Sarraj könne Libyen aus den Klauen der Milizen befreien, erfüllte sich nicht. Die Macht des Premiers blieb selbst in der Hauptstadt Tripolis abhängig vom Wohlwollen lokaler Verbände.

Seit Beginn der Offensive seines Gegners Haftar im April ist Sarraj mehr denn je auf die Gunst der Warlords angewiesen. Denn der General aus Gaddafi-Zeiten verfügt über diszipliniertere Truppen als seine Gegenspieler. Schon 2016 habe sich abgezeichnet, wie stark die Regierung die Kooperation mit den Milizen suche, sagt der Filmemacher. "Die Milizen bekamen für ihre Unterstützung von Sarraj im Gegenzug grünes Licht für ihr Geschäft mit den Migranten."

Aus Sicht von Severgnini sind die rund 700.000 Afrikaner im Land die derzeit wichtigste Ressource für Libyens Milizen und bedeutender als das Öl des Landes. Denn die Kämpfer können in einem Land mit rund sieben Millionen Einwohnern Hunderttausende ohne Lohn für sich arbeiten lassen. Eine Menge Geld lässt sich auch mit Erpressung verdienen. Zunächst sind da die Ersparnisse, die die Migranten für die Überfahrt nach Europa bei sich haben. Sind diese Mittel aufgebraucht, bleiben die Verwandten zu Hause als Finanzquelle. Der Italiener erklärt, wie das Geschäft in Zusammenarbeit mit den afrikanischen Menschenschmugglern funktioniert. "Die libyschen Milizen arbeiten mit der Mafia in Nigeria oder Ghana zusammen. Sie schicken ihren Kontaktleuten Videos von gefolterten Migranten, und die stellen dann Lösegeldforderung an die Angehörigen." Außerdem biete die Kontrolle über die Migranten die Möglichkeit, Europa der libyschen Übergangsregierung gewogen zu machen, meint Severgnini. Je mehr Migranten nach Libyen kämen, desto reicher und mächtiger würden die Milizen der Regierung, schlussfolgert er.

Migranten als Faustpfand

Nach Severgninis Einschätzung weiß Haftar aber genau, dass die Migranten das wichtigste Faustpfand in den Händen der Milizen sind. Der abtrünnige General begann seine Offensive gegen die libysche Übergangsregierung nicht zufällig mit Eroberungen im Süden des Landes im März 2019. "Er hat die wichtigste Fluchtroute unter seine Kontrolle gebracht, um die Milizen vom Nachschub an Migranten abzuschneiden", sagt Severgnini.

Aber auch das Stocken seiner Offensive "Vulkan der Wut" könnte mit den Migranten zu tun haben. Regierungsnahe Milizen verschleppten tausende illegale Migranten in provisorische Lager wie den mutmaßlich von der Luftwaffe Haftars ins Visier genommenen Hangar in Tadschura. Die Camps befinden sich oft zwischen den Fronten und in der Nähe von Militäreinrichtungen der Übergangsregierung und ihrer Milizen. "Haftar kann nur vorrücken, wenn er ohne Rücksichtnahme da durchmarschiert und ein Blutbad anrichtet", sagt Severgnini. So scheint es nun in Tadschura geschehen zu sein.

Der Filmemacher humpelt auf Krücken auf den Balkon seiner Wohnung in Medenine. Severgninis Sehne am rechten Fuß ist vor einigen Wochen bei einem Unfall gerissen. Er musste sich in Italien behandeln lassen und setzte sich, sobald es ging, wieder in einen Flieger nach Tunesien. Eigentlich ist die räumliche Nähe Medenines zur libyschen Grenze gar nicht so wichtig für seine Arbeit. Alles, was er braucht, ist eine Internetverbindung. Dass er mithilfe modernster Technik Informationen über das libysche Mittelalter und seine Henkersknechte besorgen kann, ohne dass dies bisher ein öffentliches Echo hervorruft, beweist für ihn das Versagen Europas. Die Möglichkeiten seien vorhanden, die Blackbox Libyen auszuleuchten, aber es gebe kein Interesse daran, meint Severgnini. Denn dann müsste gerade die italienische Regierung den Sinn ihrer Allianz mit der Regierung in Tripolis in der Flüchtlingspolitik hinterfragen.

Er selbst denke an eine Lösung für die humanitäre Krise, die auch manchen in der Flüchtlingshilfe aktiven Organisationen nicht gefalle, sagt der Italiener. Evakuiere die internationale Gemeinschaft die festsitzenden Afrikaner aus Libyen, könne sie danach entscheiden, wer Anrecht auf Asyl habe und wer als Wirtschaftsmigrant in seine Heimat zurückkehren müsse. "Viele meiner Kontakte sind bereit zurückzugehen, wenn sie jemand aus Libyen herausholt", sagt Severgnini.