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Moskau begehrt auf

Von WZ-Korrespondentin Inna Hartwich

Politik

Eine scheinbar unbedeutende Wahl zeigt, wie nervös der Kreml wird, wenn sich in der Hauptstadt Widerstand regt.


Moskau. Sein Gesicht ist geschwollen, der ganze Körper mit roten Flecken übersät. "Nesselsucht", heißt es aus dem Krankenhaus, in das Alexej Nawalny, einer von Russlands bekanntesten Regime-Kritikern, am Sonntag aus dem Gefängnis überstellt worden ist. 30 Tage Haft verbüßt der 43-jährige Moskauer derzeit wegen Aufrufs zu Protesten gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten bei der Moskau-Wahl, am Montag musste er wieder hinter Gitter. "Alles unter Kontrolle", sagen die Ärzte. Nawalnys Verwandte und Bekannte sowie seine Vertrauensärztin Anastasia Vasiljewa, die ihn kurz durch den Türspalt sehen durfte, sprechen von einer mutmaßlichen Vergiftung.

Noch sind es lediglich Spekulationen. Doch zeigen allein diese, wie verschärft die Lage rund um die Wahl für das Moskauer Stadtparlament mittlerweile ist. Eine Institution, die in der Vergangenheit als nicht besonders bedeutend eingestuft worden ist, eint die oppositionellen Kräfte in der russischen Hauptstadt. Aus einer Routine-Angelegenheit ist längst ein Aufstand der Unzufriedenen geworden.

Der Staat antwortet mit Schlagstöcken, wie sich bei der nicht genehmigten Demonstration am Samstag gezeigt hat, zu der Nawalny aufgerufen hatte. Mit brachialer Gewalt trieben Polizisten in voller Montur die friedlichen Demonstranten auseinander, die sich Richtung Rathaus aufgemacht hatten; mehr als 1300 von ihnen wurden festgenommen - eine Rekord-Zahl. Das Stadtzentrum Moskaus glich einer Festung, überall waren Polizeibusse mit schwer bewaffneten Uniformierten zu sehen.

Die demonstrative Härte, die Einschüchterung und Bestrafung sollen den Menschen die Illusion nehmen, es könne sich politisch etwas ändern im Land. Gekommen waren dennoch Tausende, obwohl ihre Führungsfiguren seit Tagen drangsaliert und schikaniert wurden. "Es reicht, dass man unsere Rechte mit Füßen tritt, dass man uns offen ins Gesicht sagt, dass es uns nicht gibt", sagte Ilja, ein 27-jähriger IT-Spezialist, vor einem Absperrgitter.

57 Kreml-Kritiker vom Urnengang ausgeschlossen

Am 8. September sollen in 16 Regionen Russlands neue Gouverneure und in mehr als 30 Regionen, darunter in der Hauptstadt, neue Parlamente und Stadträte gewählt werden. Ein Ereignis, das in den vergangenen Jahren stets leise und äußerst erfolgreich für die Regierungspartei "Einiges Russland" abgelaufen war. In Moskau aber bröckeln nun die Sicherheiten.

Seit zwei Wochen gehen die Unzufriedenen auf die Straße - und wollen es, trotz der jüngsten staatlichen Brachialgewalt am kommenden Samstag, wieder tun. Sie fordern, dass die 57 Bewerber, die von der Wahlkommission unter fadenscheinigen Gründen von der Wahl ausgeschlossen waren, doch noch als Kandidaten zugelassen werden.

Die Wahl ist längst keine Angelegenheit der Moskauer Stadtverwaltung allein. Diese hat die Einigkeit der Opposition - und auch die Unzufriedenheit der Menschen - unterschätzt und mit ihrer willkürlichen Entscheidung, einigen unangepassten Köpfen die Teilnahme an der Wahl zu verweigern, die Stadtduma zum Politikum gemacht. Der Kreml zeigt mit dem Auffahren der Drohkulisse - Hausdurchsuchungen bei Oppositionskandidaten, Arrest für Nawalny (und eine mögliche Vergiftung), Strafverfahren, Ermittlungen des Geheimdienstes FSB, Niederschlagungen von Demonstrationen -, wie nervös er ist. Die Krise ist von oben provoziert. Das verleiht ihr überregionale Bedeutung. Denn die Befugnisse der Stadtduma sind gering, ihre Autorität ist es ebenso. Das Interesse der Menschen für deren Wahl hielt sich in der Vergangenheit denn auch stets in Grenzen. Vor fünf Jahren lag die Wahlbeteiligung bei 21 Prozent.

Putin-Partei wurde zum Schreckgespenst

Seit Monaten aber nimmt die Unzufriedenheit mit den Machthabern zu. Die Beliebtheit des Präsidenten sinkt, die Reputation der Regierungspartei "Geeintes Russland" nimmt ab. Sich als Kandidat in deren Namen aufstellen zu lassen, wird mittlerweile als politische Bürde empfunden. Bewerber legen deshalb Wert darauf, als "Parteilose" aufzutreten.

Die Erschöpfung der Menschen führt bei vielen in die Apathie, bei einigen aber zum Widerstand. Meist ist dieser lokal begrenzt und hat soziale oder ökologische Ursachen. Der Protest von Moskau aber ist anders, als er etwa in Jekaterinburg am Ural war, wo die Menschen sich erfolgreich gegen den Bau einer Kirche gewehrt hatten. Oder auch bei Schijes im Norden, wo es den Demonstranten gelungen war, den Bau einer Mülldeponie vorerst zu stoppen.

Die Hauptstadt-Demonstrationen rühren ans Politische. Sie hinterfragen ein System, das als solches nicht infrage gestellt werden will. Politische Zugeständnisse empfindet der Kreml stets als Schwäche und offenbart mit dem immer rigoroser werdenden Vorgehen eine Angst, die paranoid anmutet. Eine an sich stille Aktion, wie die Stadtduma-Wahl es stets war, verwandelte sich so zum Ventil politisch interessierter Bürger - und zur Demonstration der Härte seitens des Staates.