Zum Hauptinhalt springen

Al Kaida: Graue Eminenzen

Von Michael Schmölzer

Politik

Die 9/11-Drahtzieher sind heute eine Terrorgruppe von vielen. Sie werden von Islamisten als leuchtendes Vorbild gesehen.


Washington/Wien. Ist den USA ein veritabler Coup gegen den Terror geglückt oder doch nicht? Die "New York Times" berichtet jedenfalls, dass ein Sohn Osama bin Ladens, Hamza bin Laden, bei einer Operation unter US-Beteiligung getötet worden sei. Offenbar liegen entsprechende Geheimdienstinformationen vor. Bei dem Spross des einstmals gefürchtetsten Al Kaida-Terroristen der Welt handelt es sich jedenfalls um keinen "kleinen Fisch": Hamza bin Laden soll zuletzt zumindest eine bedeutende Führungsrolle innegehabt haben und als Nachfolger von Al Kaida-Führer Aiman al-Sawahiri gehandelt worden sein.

Informationslage ist dünn

Doch ist die Informationslage reichlich nebulös. Genauere Angaben zu Ort und Zeitpunkt der angeblich tödlichen Kommandoaktion gegen den Terroristen liegen nicht vor. Laut "New York Times" wurde Hamza bin Laden innerhalb der vergangenen beiden Jahre getötet. Dazu kommt, dass die USA in der Vergangenheit schon mehrfach den Tod von Terrorgrößen vermeldet hatten und die Information dann rückgängig machen mussten.

US-Präsident Donald Trump, der sich im Wahlkampfmodus befindet, ist bemüht, eine Blamage zu vermeiden und zeigt sich betont zurückhaltend: Er wolle den vermeldeten Coup "nicht kommentieren", so der Präsident vor Journalisten im Weißen Haus.

Die Rolle und die Bedeutung der Al Kaida haben sich in den vergangenen Jahren jedenfalls merklich verändert. Die einst gefürchtetste Terrororganisation der Welt, die die Attentate von 9/11 geplant und durchgeführt hatte, ist heute nur mehr eine Gruppe von vielen. Sie spielt die Rolle einer "grauen Eminenz", viele andere islamistische Terrorgruppen weltweit berufen sich in ihrem Radikalisierungsprozess auf die Al Kaida, ohne Al Kaida selbst sein zu wollen. So unterstreicht die syrische Dschihadistenallianz Hayat Tahrir al-Sham weiter ihre Nähe zu Al Kaida, aus der sie hergegangen ist. Die Extremisten liefern sich derzeit heftige Kämpfe mit der syrischen Armee und den mit ihr verbündeten Russen um die letzte syrische Rebellenhochburg in Idlib. Die Zahl der zivilen Opfer ist groß, doch für Moskau und Syriens Präsident Bashar al-Assad ist klar, dass es sich um einen legitimen Krieg gegen den Terror handelt. Eine Argumentation, der die USA wenig entgegenzusetzen haben. Terroristen, die bewusst als "Al Kaida" firmieren, findet man im Bürgerkriegsland Jemen, wo sie weite Gebiete um die Stadt al-Mukallah unter ihrer Kontrolle haben. Aber auch dort ist so, dass in erster Linie mit der Terrororganisation verbündete Stämme ihr Unwesen treiben.

Im afrikanischen Mali sind es islamistische Separatisten, die sich - je nachdem - mit dem Islamischen Staat oder mit Al Kaida identifizieren, die brandgefährliche somalische Terrormiliz Al-Shabaab ist ebenfalls mit Al Kaida im Bunde. Immer wieder verüben die Milizionäre Anschläge in Mogadischu. Hotels, Restaurants oder Einrichtungen des Militärs sind das bevorzugte Ziel.

Die USA sind kriegsmüde

Diese Terrorakte existieren, doch werden sie im Westen kaum mehr zur Kenntnis genommen. Der einst von US-Präsident George W. Bush ausgerufene "Krieg gegen den Terror" passt nicht mehr in das Jahr 2019. Die US-Feldzüge in Afghanistan und im Irak standen unter diesem Motto, doch diese Militäraktionen forderten auf amerikanischer Seite einen hohen Blutzoll und sind nicht mehr populär.

Das hat niemand früher erkannt als der amtierende Präsident Donald Trump, der die Terrorbekämpfung im Ausland aus seinem rhetorischen Repertoire gestrichen hat. Die Gefahr lauert jetzt im Süden, an der Grenze zu Mexiko. "Build that wall", lautet das Motto, wobei Trump ernsthaft auch Terroristen unter den Latino-Migranten vermutet hat.

Zwar machen die USA im Jemen tatsächlich Jagd auf Al-Kaida-Kämpfer, hängen das aber nicht an die große Glocke. Zuletzt ging es darum, den Terrorpaten Jamal al-Badawi zu töten, mit dem Washington seit Jahren eine Rechnung offen hatte. Denn al-Badawi war Drahtzieher des Anschlags auf das Kriegsschiff USS Cole vor Aden, bei dem im Jahr 2000 17 US-Soldaten den Tod fanden. Damals hatten zwei Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Schlauchboot gegen das US-Kriegsschiff gesteuert und ein enormes Leck geschlagen.

Im Jänner dieses Jahres bestätigte Trump, dass man al-Badawi getötet habe. Damit ist nach amerikanischer Auffassung der Gerechtigkeit genüge getan. Die Matrosen der USS Cole sind gerächt, das Pentagon kann getrost auch dieses Kapitel schließen.

Letzter Anschlag lange her

Dazu kommt, dass der letzte Anschlag auf US-amerikanischem Staatsgebiet, der auf die Kappe der Al Kaida geht, schon geraume Zeit zurückliegt. 2010 hat es einen versuchten Al Kaida-Anschlag am Times Square gegeben, Tote oder Verletzte waren nicht zu beklagen. Am 5. November 2009 erschoss der US-Militärarzt Nidal Malik Hasan in der texanischen Kaserne Fort Hood willkürlich 13 Menschen, 32 wurde verletzt. Er soll direkten Kontakt zur Al Kaida gehabt haben, zu einem Terrorprozess kam es aber nicht. Dann verschwand die Al Kaida sukzessive aus der US-Berichterstattung. Osama bin Laden selbst ist 2011 von einer US-Spezialeinheit in Pakistan getötet worden.

In der jüngeren Vergangenheit waren es US-Amerikaner, die für blutige Massaker sorgten. Etwa Stephen Paddock, der 2017 im Spielerparadies Las Vegas aus einem Hotelfenster wahllos in eine Menschenmenge schoss und 58 Personen tötete. Dazu kommen Schüsse eines Stadt-Angestellten in Virginia Beach mit 13 Toten und ein Rechtsradikaler, der in der "Tree of Life"-Synagoge in Pittsburgh in Pennsylvania elf Menschen niederstreckte.

Der Schrecken, so scheint es, hat dieser Tage ein anderes Gesicht bekommen.