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"Riesige Provokation für Chinas Führung"

Von Klaus Huhold

Politik

Neue Proteste in Hongkong: Die Volksrepublik wolle einen großen Eklat vermeiden, stehe aber massiv unter Druck, sagt der China-Experte Matthias Stepan. Zumal die Protestbewegung offenbar nur noch über die Straße kommunizieren wolle.


Hongkong/Wien. In Hongkong stehen die Zeichen weiterhin auf Sturm. Trotz heftigen Regens gingen am Samstag erneut zehntausende Regierungskritiker - diesmal vor allem Lehrer - auf die Straße. Sie versammelten sich im zentralen Geschäftsbezirk und marschierten zum Sitz der umstrittenen Regierungschefin Carrie Lam. Dort riefen sie: "Hongkongs Polizei kennt das Gesetz und verstößt gegen das Gesetz." Die Demonstration war von den Behörden genehmigt und verlief friedlich. Für Sonntag hat die einflussreiche Menschenrechtsgruppe Civil Human Rights Front zu einem weiteren Marsch aufgerufen.

Die Proteste, die in der Wirtschaftsmetropole seit zehn Wochen laufen, schlugen in jüngster Zeit verstärkt in Gewalt um. China lässt an der Grenze zu Hongkong bereits seine Truppen aufmarschieren - gleichzeitig deutete die parteinahe Zeitung "Global Times" nun an, dass die Proteste in der Finanzmetropole nicht ähnlich enden sollen wie der Aufstand am Tiananmen-Platz in Peking 1989, als die Kommuntische Partei Studentenproteste mit Panzern niederschlug. Hongkongs Protestbewegung wiederum hat für das Wochenende weitere Massenkundgebungen angekündigt. Die Demonstranten fordern mehr demokratische Rechte für die Sonderverwaltungszone ein, viele von ihnen verlangen den Rücktritt der Regionalregierung, und die radikalsten unter ihnen fordern Hongkongs Unabhängigkeit und stellen die Herrschaft von Chinas Kommunistischer Partei (KP) in Frage. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem China-Experten Matthias Stepan über die Strategie der KP, warum sich die Protestbewegung radikalisiert hat und wie internationale Akteure mit der Krise umgehen sollten.

"Wiener Zeitung": China sendet widersprüchliche Signale nach Hongkong. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Volksrepublik die Proteste in der Sonderverwaltungszone niederschlagen lässt?

Mattias Stepan: Derzeit ist es relativ unwahrscheinlich, dass es zu einem härteren Eingreifen mit bewaffneter Volkspolizei oder Militär kommen wird. Die chinesische Führung will vermeiden, dass es kurz vor dem 70-jährigen Jubiläum zur Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober zu einem großen Eklat kommt, der ihrem internationalen Ansehen großen Schaden zufügen würde.

Aber sind nicht bereits die Bilder von den Demonstrationen ein großer Schaden zum Jubiläum?

Chinas Führung steht klar unter Druck. Deshalb versucht sie mit Bildern von gepanzerten Fahrzeugen und Übungen der Volkspolizei in Shenzhen, der Nachbarstadt Hongkongs auf dem chinesischen Festland, eine Drohkulisse aufzubauen. Gleichzeitig setzt die Pekinger Führung hinter den Kulissen alles in Bewegung, um die Proteste klein zu halten. Zuletzt setzte sie Hongkonger Unternehmen unter Druck, damit deren Angestellte nicht an den Protesten teilnehmen.

Wie groß ist denn der Rückhalt in der Hongkonger Bevölkerung für die Protestbewegung?

Es gibt unterschiedliche Beweggründe, weshalb verschiedene Gruppen der Hongkonger Bevölkerung mit der Arbeit der Hongkonger Regierung und der Situation in der Stadt unzufrieden sind. Viele alteingesessene Hongkonger sind unglücklich darüber, welche Entwicklung die Stadt seit der Wiedervereinigung mit China 1997 genommen hat, weil die wirtschaftliche und finanzielle Bedeutung abgenommen hat. Hongkong gehört nicht mehr zu den Kronjuwelen, sondern ist nun eine von vielen chinesischen Städten. Darüber hinaus ist die soziale Situation angespannt, die Stadt kann zum Beispiel nicht genügend erschwinglichen Wohnraum zur Verfügung stellen. Und dann gibt es die Frage nach der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Hongkong und seinen Institutionen, woran sich die aktuellen Proteste entzündet haben. Somit sind ganz unterschiedliche Gruppen mit der aktuellen Regierung in der Stadt nicht einverstanden. Die Stadtregierung versucht nun, die Partikularinteressen zu bedienen und einzelne Bevölkerungsgruppen wieder mehr an sich zu binden. So hat sie etwa ein Maßnahmepaket für sozial Schwache verkündet.

Die Speerspitze der Protestbewegung hat sich auf eine Weise radikalisiert, wie wir es in Hongkong noch nie gesehen haben. Sie führt gewaltsame Aktionen durch, ruft gar zum Aufstand gegen die Kommunistische Partei auf. Woher kommt diese Radikalisierung?

Das hängt mit den Entwicklungen seit der letzten Wahl in Hongkong zusammen. Damals sind erstmals Vertreter von Parteien ins Parlament eingezogen, die mehr Freiheiten für Hongkong bis hin zur Unabhängigkeit vom Festland gefordert haben. Doch Parteien wurden verboten; Abgeordnete, die solche Forderungen stellten, wurden angeklagt. Damit wurde die Diskussion über solche Themen innerhalb des politischen Zirkels in Hongkong abgestellt und auf die Straße verlagert. Die direkten Angriffe auf die Kommunistische Partei sind nun aber eine große Provokation für China. Eine Deeskalation ist derzeit nicht in Sicht. Ein Teil der jüngeren Aktivisten hat das Gefühl, dass der gewaltsame Protest auf den Straßen die einzig verbleibende Art der Kommunikation ist, um ihren Forderungen Gehör und Nachdruck zu verschaffen.

Besitzt Hongkong eine politische Strahlkraft Richtung Festlandchina? Können die Proteste überschwappen?

Die Forderungen der Protestbewegung bieten wenig Anknüpfungspunkte für eine Solidarisierung in Festlandchina. Zudem laufen die Debatten in China in eine andere Richtung.

Wie wird das Thema in Festlandchina diskutiert?

Die Debatte wird von parteistaatlichen Medien gelenkt und stellt bestimmte Ereignisse in den Vordergrund. Embleme der Volksrepublik sind beschmiert worden, die chinesische Flagge wurde in den Fluss geworfen. Nicht nur die nationalistischen Hardliner schließen daraus, dass sich die Hongkonger den Festlandchinesen gegenüber überlegen fühlen. Diese Erzählung wird noch einmal durch den Partei- und Medienapparat verstärkt. Zudem spielt der chinesischen Propaganda in die Hände, dass sie die Proteste in Hongkong mit einer Botschaft des Chaos verknüpfen kann. Das schafft eine Analogie zur Kulturrevolution. Und wenn sich dann noch westliche Politiker als Vermittler anbieten, steht schnell der Vorwurf im Raum, dass ausländische Kräfte Aufruhr in China stiften, damit das Land im Chaos versinkt und wieder von westlichen Mächten dominiert werden kann.

Sollten sich also westliche Politiker zurückhalten, weil sie mit zu lauten Tönen gegenüber China der Protestbewegung nur schaden?

Sicher ist, dass China eine offene Einmischung klar ablehnt. Zumindest hinter verschlossenen Türen sollten hiesige Politiker ihre Standpunkte zu den Protesten gegenüber chinesischen Politikern noch einmal sehr deutlich klarmachen.

Und hinter verschlossenen Türen können internationale Politiker tatsächlich Einfluss nehmen?

Für die chinesische Führung spielt es durchaus eine Rolle, wie ihre Aktionen international wahrgenommen worden. Erfahrung hat gezeigt, dass Interventionen hinter verschlossenen Türen einen Beitrag dazu geleistet hat, dass einzelne Regimekritiker freigelassen wurden. Was Hongkong angeht, ist sich China sicherlich bewusst, dass die internationale Gemeinschaft auf eine militärische Intervention sehr kritisch reagieren würde und für China wichtige Kooperationen belastet werden könnten.