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"Ich bin nun fest überzeugt, dass die Sache friedlich gelöst wird"

Von Michael Schmölzer

Politik

Vor 80 Jahren begann mit dem Überfall der Nazis auf Polen der Zweite Weltkrieg. In seinem Tagebuch beschreibt mein Großvater, Hans Schmölzer, den Feldzug aus der Warte eines Leutnants der Wehrmacht.


Wien. Der Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 markiert den Auftakt zu einem Krieg, in dessen Verlauf mehr als 60 Millionen Menschen getötet wurden und es in Japan zum Einsatz der Atombombe kam.

Die Nazis fingierten zunächst Angriffe polnischer Truppen auf Deutschland, dann vermeldete der Führer Adolf Hitler, dass "seit 5.45 jetzt zurückgeschossen" werde. Die Zeitangabe war freilich falsch. Der deutsche Panzerkreuzer "Schleswig-Holstein" eröffnete das Feuer gegen polnische Stellungen auf der sogenannten Westerplatte schon um 4.45 Uhr. Der "Fall Weiß", wie der Nazi-Deckname für den Angriff auf Polen lautete, war spätestens seit dem 22. August fix beschlossen.

Die "Wiener Zeitung" versucht, die dramatischen Ereignisse anhand bisher unveröffentlichter Originaldokumente nachzuzeichnen. Als umfangreiche Quelle erweist sich das Kriegstagebuch meines Großvaters Hans Schmölzer, damals Rechtsanwalt im oberösterreichischen Steyr und überzeugter Nationalsozialist, der bei dem Überfall auf Polen von Beginn an dabei war.

Dass ein Krieg bevorsteht, war ihm im Juni 1939 klar. Da wurde er als Leutnant bei der Fliegerabwehr (Flak) zu einer militärischen Übung in Linz eingezogen. "Man macht uns Andeutungen über den Ausbruch eines Krieges im September", notiert er in sein Tagebuch. Die Übungen an den Geschützen finden mit anderen altgedienten Soldaten statt, die, wie mein Großvater, schon im Ersten Weltkrieg an der Front waren.

Die Aussicht auf Krieg begeistert Hans Schmölzer nicht. Mittlerweile hat er eine Anwaltskanzlei, ein Haus, eine Frau und zwei Kinder. "Als allzeit vorausdenkender Mann" verkauft er sofort sein Auto, wie er schreibt. Offenbar will er verhindern, dass die Wehrmacht das Fahrzeug beschlagnahmt.

Um 1.30 Uhr wurde der Angriffsbefehl zurückgezogen

Am 13. August ist für meinen Großvater klar, wohin die Reise geht. Er wird wieder zu einer Übung eingezogen, wobei er in seinem Tagebuch "Übung" unter Anführungszeichen setzt. Sein Zug setzt sich in Richtung Osten in Bewegung, über Mähren geht es in Richtung Polen.

Am 21. August erreicht er Gleiwitz, 1200 Meter vor der Grenze geht er mit seiner Flakbatterie in Stellung. Hier wird der Zweite Weltkrieg seinen Ausgang nehmen. Die Nazis wollten es so aussehen lassen, als hätte Polen den Krieg begonnen. Die SS fingierte einen Angriff auf den hölzernen Sendeturm, der heute noch steht und besichtigt werden kann.

Von dem vorgetäuschten Angriff schreibt mein Großvater nichts, die Sache war streng geheim.

Was er schon notiert, ist, dass der Angriff auf Polen am 26. August "um 4.30 Uhr" starten soll. Die deutsche Infanterie rückt an die Grenze vor, es kommt zu einem Stau und Getümmel, weil sich so viele Soldaten mit schweren Geschützen zum Angriff versammeln.

Und dann geschieht - gar nichts. "Um 1.30 Uhr Früh wird der Angriffsbefehl zurückgezogen", notiert Schmölzer. "Ich bin nun fest überzeugt, dass die Sache friedlich gelöst wird." Immerhin habe man sich durch den militärischen Massenauflauf ja um das Überraschungsmoment gebracht.

Er täuscht sich. Am 31. August "wird der Angriffsbefehl vom 25. August wiederholt für 1. September, 4.45 Uhr".

Jetzt geht es wirklich los. "Die Infanterie vor uns überschreitet die Grenze. Gewehrfeuer, Handgranaten, schwaches Geschützfeuer." Er aber bleibt "sehr ruhig", weil er im Ersten Weltkrieg schon ganz anderes erlebt habe.

Der Vormarsch Richtung Warschau geht dann rasch, die polnische Armee hat gegen die hochgerüsteten Deutschen keine Chance. Schon am 5. September vermeldete Wehrmachts-General Franz Halder, dass "der Feind so gut wie geschlagen" ist. Die verzweifelten Kavallerie-Attacken der Polen gegen deutsche Panzer sind legendär. Die Nazis kannten keine Gnade, die Angriffe ihrer Sturzkampfbomber "Stukas" haben eine fürchterliche psychologische Wirkung, weil sie mit durchdringendem Sirenengeheul erfolgen.

In Russland lief die Sache dann unter umgekehrten Vorzeichen. Das Kreischen der "Stalin-Orgeln", aus Eisenbahnschienen gebaute Raketenwerfer der Roten Armee, versetzte die Deutschen in Angst und Schrecken.

Am 6. September fiel Krakau in die Hände der Deutschen, einen Tag später flieht die polnische Regierung von Warschau nach Lublin. Zu diesem Zeitpunkt bricht jeder organisierte Widerstand zusammen.

Meinem Großvater fällt auf, dass die "Bevölkerung wahnsinnig verängstigt" ist. Auf der Seite der Nazis wiederum geht die Angst vor Partisanen ("Insurgenten", wie mein Großvater schreibt) um. Sogar wenn er aufs Klo geht, wird er von zwei Polen eskortiert, die als Wachen vor der Türe Aufstellung nehmen. Am 8. September erreicht der Flak-Leutnant Schmölzer mit seiner Einheit Krakau.

Dann bleiben die Nazis mit ihren Fahrzeugen "im 30 Zentimeter tiefen Sand" stecken. In der Tat verfügt Polen über Wüstengebiete, die stellenweise großflächig sind. Selbst "der General Busch" bleibt hier mit seinem Fahrzeug stecken, "auch den ziehe ich heraus", vermeldet mein Großvater stolz. Schließlich haben seine "Geschützzugsmaschinen" Raupenbänder. Später hat in der Bledow-Wüste das deutsche Afrikakorps für den Einsatz trainiert.

Es ist äußerst wahrscheinlich, dass es sich bei diesem "General Busch" um einen der treuesten Anhänger Hitlers in der Wehrmacht handelte. Er wurde später zum Generalfeldmarschall befördert und war Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte in der Sowjetunion. Die Heeresgruppe kollabierte 1944 völlig, die Rote Armee war dann rasch vor Berlin, und das Ende des Dritten Reiches war besiegelt.

"Auf der Straße nach Tomaszow reiht sich Toter an Toter"

Von Niederlage konnte in Polen freilich keine Rede sein, ein deutscher Sieg reihte sich an den anderen, die Wehrmacht stürmte fast im Laufschritt voran. Das Elend der polnischen Niederlage geht auch an meinen Großvater nicht spurlos vorbei. "Rechts und links der Straße nach Tomaszow reiht sich Toter an Toter, das Gelände ist voll von Geschützen und Fahrzeugen und toten Pferden vom polnischen Rückzug", schreibt er.

Am 17. September war das Schicksal Polens endgültig besiegelt. Die Rote Armee fällt im Osten ein, die polnische Armee liegt ohnehin schon am Boden. Am 22. September findet die erste gemeinsame deutsch-sowjetische Militärparade statt.

Einen Tag vorher, am 21. September, bekommt mein Großvater einen polnischen Hauptmann in die Hände, von dem er ausführlich berichtet. Der Mann mit dem deutsch klingenden Namen "Jaeschke" sei "eine Ruine und seelisch völlig gebrochen", schreibt er. "Ich lasse ihn in meinem Zelt schlafen." Ein Offizier seiner Batterie habe Jaeschke erschießen lassen wollen, "ich konnte dies mit Krach verhindern".

Am 22. September ist für meinen Großvater der Polen-Feldzug vorbei, es geht zurück in seine Heimatstadt Steyr. Er ist aber "der Ansicht, dass der Krieg zwei Jahre dauern wird", wie er notiert. Niemand schenke dem Glauben, er werde ausgelacht.

Am 3. November 1941 äußerte mein Großvater erstmals Zweifel, dass Hitler den Krieg gewinnt. Die Nazis haben mittlerweile die Sowjetunion angegriffen, der Vormarsch Richtung Moskau geht nur noch langsam voran, weil das Herbstwetter für Regen und Morast sorgt. Die ersten gravierenden Niederlagen der Deutschen vor Moskau, in Stalingrad und in Afrika waren aber noch Zukunftsmusik.

Mein Großvater nimmt zu dieser Zeit an einem "Lehrgang für Batterieoffiziere" in Ustka/Stolpemünde teil. Er lernt dort einen "Leutnant Mayer" kennen, einen Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, der Zweifel am Endsieg hat. "Auch ich kann diese Zweifel nicht mehr ganz unterdrücken", schreibt Flak-Leutnant Schmölzer. Er hält sich mit rund 44 Jahren für zu alt für den Krieg und sucht bei den Wehrbehörden um seine Entlassung an. Doch mit Fortdauer des Krieges wird das immer unrealistischer. Ab Ende 1944 wurden sogar 60-Jährige zum Volkssturm einberufen.

Dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann, dessen ist sich mein Großvater Mitte Jänner 1942 so gut wie sicher: "Viele glauben an eine entscheidende Offensive im Osten im späten Frühjahr. Ob wir nach diesem Winter das noch können und ob sie zu einem gänzlichen Niederwerfen Russlands führt? Letzteres glaube ich nicht mehr."

Als in der Folge die Bombenangriffe auf deutsche Städte immer größere Dimensionen annehmen, wächst seine Verbitterung. Er fürchtet um sein Haus, das in Steyr steht, wo es Rüstungsbetriebe gibt. Die Stadt wird also mit großer Wahrscheinlichkeit das Ziel von Luftangriffen werden. Er hofft jetzt, dass "die Angelsachsen" zuerst Deutschland besetzen und nicht die Sowjets. Sollte die Rote Armee schneller sein, rechnet er nicht damit, dass er und seine Familie überleben.

"Wie weit reichen die Fädender Gegner des Systems?"

Am 20. Juli 1944 notiert er: "Das Sprengstoffattentat auf den Führer erschüttert uns alle. Ein Oberst v. Starkenburg (sic) mit Offizieren der Wehrmacht! Wie weit reichen die Fäden der Gegner des Systems?" Sollte mein Großvater mit den Aufständischen des 20. Juli insgeheim sympathisiert haben, so schreibt er das zumindest nicht. Wäre das entdeckt worden, wäre es einem Todesurteil gleichgekommen.

1944, im August, schließt sich der Kreis. Mein Großvater kommt zurück nach Polen, wo er im September 1939 siegreich einmarschiert war. Nun hat sich das Blatt gewendet, die deutsche Niederlage ist nur noch eine Sache von Monaten.

Er ist kurz in der Nähe von Auschwitz stationiert und dort einem "Oberst Kusch" unterstellt. Mein Großvater kommt also an den Ort, an dem die Nazis ihre größten Verbrechen begangen haben und wo mehr als eine Million Menschen, hauptsächlich Juden, ermordet wurden. Mein Großvater schreibt zunächst nur, dass es hier das "angeblich größte Hydrierwerk des Reiches der I.G. Farben" gibt. Es handelte sich um eine technische Anlage zur Kohleverflüssigung, um Kraftstoffe herzustellen. Etwas, was die auf dem Rückzug befindlichen Deutschen, die ihre Erdölgebiete zu diesem Zeitpunkt weitgehend verloren hatten, dringend brauchen.

Die Massenvernichtung im KZ Auschwitz bekommt er mit. "Im hiesigen Konzentrationslager befinden sich 120.000 Menschen, unentwegt raucht das Krematorium", schreibt er am 24. August 1944. "Eingelieferte werden oft ihrer sehr guten Kleidung und Schuhe beraubt und müssen blossfüßig daherlaufen. Ich sah viele Kinder mit den Müttern laufen." Am 27. August 1944 schreibt er: "Nach dem Polenkrieg 1939 versuchte man, die Polen, ein Volk von 28 Millionen Menschen, auszurotten (. . .). Sie verhungerten in Massen. Wohl zu Millionen ließ man sie in den Konzentrationslagern an Erschöpfung (von 3 Uhr Früh bis 7 Uhr Abends in schwerer Arbeit) und Hunger (nur Suppe) sterben. Hunderttausende wurden sonst erschossen." Er ist empört: "Etwas Trottelhafteres als unsere Führung sah die Weltgeschichte noch nie." Und, wenig später: "Der völlig unfähige Norddeutsche sollte seine Finger von andern Völkern und Stämmen lassen."

Schließlich teilt er seinem Tagebuch am 29. August 1944 erschütternde Beobachtungen mit: "Das ganze Land hier ist ein einziges, ungeheures Konzentrationslager. Überall in den Gruben, in Landwirtschaft, in Fabriken und Straßen arbeiten sie in den gestreiften Kleidern, Männer und Frauen, die auch ihre Kinder bei sich haben. Schrecklich ausgemergelte Gestalten, Juden, Polen, Holländer, Franzosen, Deutsche." Und: "Das tag- und nacht betriebene Krematorium reicht nicht aus, auf Scheiterhaufen, auf freiem Felde werden die Leichen ununterbrochen verbrannt."

Und: "Wir sahen auf dem Bahnhof Auschwitz einen neuangekommenen Transport von 100-130 Menschen in einem Waggon, aus jedem wurden Ohnmächtige oder Tote herausgeschleppt. Es ist einfach unsagbar fürchterlich. Und wer dazu etwas sagt, wandert sofort selbst in das KZ." Mein Großvater hat zudem mit SS-Männern aus dem Konzentrationslager gesprochen und sich über die Verbrechen, die dort stattfanden, informiert.

Nach dem Krieg hat er das Erlebte verdrängt und seinen enormen Irrtum nicht wahrhaben wollen.