Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Spaltung seiner Regierungspartei AKP nicht mehr verhindern konnte, eröffnete er die Schlammschlacht: Der frühere AKP-Chef Ahmet Davutoglu sei ein Betrüger, wetterte Erdogan. Davutoglu konterte, der Präsident solle doch sein Vermögen offenlegen. Davutoglu war einst ein Getreuer Erdogans, sein Chefberater und unter ihm Ministerpräsident. Nun hat er eine neue Partei gegründet.
"Zukunftspartei" soll die neue Partei heißen. Davutoglu verspricht am Freitag vor jubelndem Publikum in Ankara, für Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit einzustehen. In einer Zeit der "autoritären und populistischen Tendenzen in der Welt" müsste man ein Land aufbauen, in dem Menschen "erhobenen Hauptes mit freiem Willen leben" könnten - wohl eine Anspielung auf Erdogan.
Ex-Minister Ali Babacan will auch eine neue Partei gründen
Davutoglu ist nicht der einzige Herausforderer des mächtigen Präsidenten aus dem eigenen Lager. Ali Babacan (52), ehemaliger Wirtschafts- und Außenminister und AKP-Mitbegründer, will noch im Dezember ebenfalls eine neue Partei gründen. Der frühere Präsident Abdullah Gül soll ihn beraten; auch er war bei der AKP von Anfang an dabei. Können die Dissidenten Erdogans Macht ernsthaft gefährden?
Und wie konnte es mit der AKP, die seit 2002 die Regierung stellt, so weit kommen? Schon lange rumpelt es in der Partei. Bei den Kommunalwahlen im März wurde sie zwar wieder landesweit stärkste Kraft, doch wichtige Großstädte gingen an die Opposition, darunter das wirtschaftliche Herz des Landes: Istanbul.
Der Schaden für die AKP wäre nicht so groß gewesen, hätte Erdogan dort den Sieg des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu über den AKP-Kandidaten Binali Yildirim akzeptiert. Doch Erdogan drängte auf eine Wiederholung der Wahl - die Imamoglu gewann. Dass der Präsident das Ergebnis ohne nachvollziehbaren Grund anfocht, war selbst vielen AKP`lern zu viel. Austritte häuften sich. Mit rund 9,9 Millionen ist sie noch immer die mitgliederstärkste Partei in der Türkei, im August 2018 hatte die AKP laut Medien aber noch 10,7 Millionen Mitglieder.
Wahlwiederholung in Istanbul als Wendepunkt
Ehemalige Weggefährten Erdogans wie der deutsch-türkische Abgeordnete Mustafa Yeneroglu, der Ende Oktober aus der AKP austrat, beschreiben die Wahlwiederholung in Istanbul als Wendepunkt. Er habe damit "die letzte Hoffnung verloren", sagte er der Zeitung "Karar". Das Drängen auf die Wiederholung zeige, dass Erdogan keine Ahnung mehr habe, was die AKP-Basis denke, heißt es aus dem Umfeld Davutoglus.
Die Entfremdung geht sogar noch tiefer. Die AKP war 2002 mit dem Versprechen an die Macht gekommen, das Land zu reformieren, Korruption auszumerzen und für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen. Lange war die AKP-Regierung damit erfolgreich: Die Wirtschaft boomte und Erdogan wurde für seine Reformen 2004 sogar als "Europäer des Jahres" ausgezeichnet. Die alte AKP habe immer Werte wie Menschenrechte und pluralistische Demokratie verteidigt, schwärmt Babacan im "Karar"-Interview von September.
Inzwischen steckt die Türkei in wirtschaftlichen Problemen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent. Das Land ist polarisiert, ein Großteil der Presse auf Regierungslinie, Kritiker sind im Gefängnis. Vor allem nach dem Putschversuch von 2016 ist der Druck auf die, die ihre Stimme erheben, gestiegen.
Yeneroglu spricht von einem "Angstklima". Hinzu kommt, dass Erdogan seit der Einführung des Präsidialsystems 2017 mit umfassenden Vollmachten ausgestattet ist. Wichtige Entscheidungen gehen über den Präsidialpalast und damit durch ein Nadelöhr. Erdogan sei nur noch von Opportunisten und seiner Familie umgeben, heißt es.
Dissidenten: "Erdogan hört nicht mehr zu"
Ein weiterer Punkt, den Dissidenten nennen: Erdogan höre nicht mehr zu. Jede Kritik und Empfehlung gelte "als Verrat und Feindseligkeit", hatte Davutoglu zu seinem Parteiaustritt gesagt. Auch Yeneroglu sagt, er habe jahrelang Kritik geäußert, sei aber nicht gehört worden. "Wenn man seine Grundsätze vergisst und die aktive Kommunikation mit der Basis abbricht, dann verfällt man in eine Macht-Trunkenheit" resümiert Yeneroglu im "Karar"-Interview.
Davutoglu und Babacan wollen es nun richten. Davutoglu zielt nach Ansicht von Beobachtern vor allem auf die Unterstützung des enttäuschten konservativ-religiösen AKP-Klientels. Babacan könnte auch laizistisches Wähler ansprechen. Er gilt genießt als Wirtschaftsfachmann Vertrauen vor allem unter Geschäftsleuten.
Die Opposition beäugt die beiden dennoch misstrauisch, schließlich waren sie lange Teil von Erdogans Machtapparat. Vor allem Davutoglu hat dessen Politik wie etwa Repressionen gegen Journalisten mitgetragen. Rusen Cakir, Gründer der Medienplattform Medyascope, sagt, Babacan und Davutoglu seien "nicht sehr oppositionell", sondern wirkten eher, als hätten sie sich aus Groll von der AKP losgesagt.
Neue Parteien könnten 5 bis 10 Prozent erreichen
Zwischen 5 und 10 Prozent könnten die neuen Parteien jeweils erreichen, heißt es aus dem Davutoglu-Lager. Das wäre genug, um die fragile Mehrheit der AKP im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP im Parlament zu gefährden. Die nächsten regulären Parlaments-und Präsidentenwahlen stehen zumindest planmäßig aber erst 2023 an.
Ob sich ein Oppositioneller bei der Präsidentenwahl gegen Erdogan durchsetzen könnte, ist fraglich. Der neue Star der größten Oppositionspartei CHP, Istanbuls Bürgermeister Imamoglu, wird schon als künftiger Kandidat gehandelt. Doch zuvor muss er sich erst einmal in Istanbul beweisen.
Erdogan verlor nach den Kommunalwahlen im März an Popularität. Doch mit dem Militäreinmarsch in Nordsyrien Anfang Oktober schaffte er es, die Reihen wieder hinter sich zu schließen. Danach gaben laut Umfrageinstitut Metropoll 54,4 Prozent an, den Präsidenten zu bewundern. Erdogan sei in einer paradoxen Lage, sagt der Analyst Levent Gültekin: Angesichts seiner weitreichenden Befugnisse als Präsident habe Erdogan so viel Macht wie noch nie, aber er sei auch politisch so schwach wie noch nie. (dpa)