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Wenn das Paradies zum Brennpunkt wird

Von Klaus Huhold

Politik
Ein Bus wird als Straßensperre verwendet. Kaschmir gleicht einem Hochsicherheitstrakt.
© Danish Siddiqui

Mit dem Entzug der Autonomierechte für Kaschmir hat Indien einem langjährigen Konflikt neuen Zündstoff geliefert. | Pakistan ist empört und will das Thema kommende Woche vor die UN-Generalversammlung bringen.


Lotuspflanzen, Hausboote aus Zedernholz, Berghänge, an denen Pappeln und Pinien wachsen: Touristen, die nach Kaschmir reisen, sind entzückt, die Region wird ob ihrer Schönheit als "Paradies auf Erden" bezeichnet. Doch Touristen befinden sich derzeit kaum noch in der Region. Indien hat vergangenes Monat vor Anschlägen gewarnt, Sicherheitskräfte patrouillieren durch die Städte, und es wurden Ausgangssperren verhängt.

Das Paradies ist schon seit Jahrzehnten ein Brennpunkt internationaler Politik, und eine Entscheidung in Neu Delhi hat dem Konflikt noch einmal viel Zündstoff geliefert. Die hindunationalistische Regierung von Premier Narendra Modi hat Kaschmir seine Autonomie aberkannt und seine Sonderrechte entzogen. Die Entscheidung hat ein politisches Erdbeben ausgelöst, dessen Ausläufer bis nach New York reichen werden. Pakistan ist nämlich erzürnt und will das Thema vor der UNO debattieren, deren Generalversammlung kommende Woche in New York beginnt.

Diese Entwicklung ist das nächste Kapitel in einer jahrzehntelangen Geschichte, die von Feindschaft und Gewalt geprägt ist: Als Ende der 1940er Jahre Britisch-Indien zerfiel, versuchte Kaschmirs damaliger Maharadscha, die Unabhängigkeit des Fürstentums zu wahren. Doch von Pakistan unterstützte paschtunische Stammesmilizen drangen in Kaschmir ein. Der Maharadscha erklärte daraufhin den Beitritt zu Indien, um dessen Beistand zu erhalten. Dies führte zum ersten Indisch-Pakistanischen Krieg, der 1949 mit der Zweiteilung Kaschmirs endete. Der südliche und größere Teil kam als Jammu und Kaschmir zu Indien, der nördliche und kleinere Teil kam zu Pakistan (ein kleineres Gebiet Kaschmirs gehört auch zu China).

In den Jahrzehnten danach lieferten sich Indien und Pakistan noch einen weiteren Krieg und verschiedene Gefechte, immer wieder kam es im indischen Teil Kaschmirs zu Aufständen, während Neu Delhi die Region militarisiert und hunderttausende Soldaten dorthin entsandt hat. Bis heute sind die beiden Standpunkte unvereinbar: Neu Delhi leitet seinen Anspruch auf Kaschmir daraus ab, dass der Maharadscha damals Indien beigetreten ist. Pakistan, das als Heimat der indischen Muslime gegründet wurde, sieht Kaschmir als Teil seines Staates an, weil eben der Großteil der Kaschmiris Moslems sind.

Und mitten in diese Gemengelage hinein nimmt Indien Kaschmir seine Autonomierechte. Neu Delhi provozierte damit Pakistan, weil es deutlich gemacht hat, dass es Kaschmir nur noch als innerindische Angelegenheit ansieht. Aber auch viele Kaschmiris fühlen sich missachtet. Und es herrscht Angst: Denn die Autonomie sahen viele Kaschmiris, die dem indischen Staat misstrauen, als Schutz an. Etwa deshalb, dass nur Kaschmiris Land in Kaschmir kaufen durften.

Angst vor Hindunationalismus

Genau diese Regelung ist gefallen. Die moslemischen Kaschmiris fürchten nun, dass Indien Kaschmir hinduisiert, wie China Tibet durch die Ansiedelung von Chinesen sinisiert hat. Genährt werden diese Ängste dadurch, dass Politiker der regierenden BJP öffentlich von einem hinduistischen Großreich träumen. "Einer der Gründe, warum Indien diesen Schritt in Kaschmir unternommen hat, ist, dass es die Demographie ändern will", sagt auch der pakistanische Botschafter in Österreich, Mansoor Ahmad Khan, zur "Wiener Zeitung".

Stimmt nicht, erwidern indische Diplomaten. Und spricht man mit ihnen, argumentieren sie, dass die Autonomie Kaschmir viel Schaden gebracht hätte. Sie habe verhindert, dass sich große Industrien in Kaschmir ansiedeln, weshalb die Region nicht am indischen Aufstieg der vergangenen Jahre habe teilhaben können. Nicht nur das: Auch Rechte für Frauen und Minderheiten konnten wegen der Sonderregeln für Kaschmir nicht wie im restlichen Indien umgesetzt werden. Das soll sich aber ändern. Die Regierung verspricht den Kaschmiris einen Aufschwung, wie sie ihn noch nicht erlebt haben.

Eine Frage stellen derzeit aber auch in Indien viele kritische Geister: Wenn die Kaschmiris so eine blühende Zukunft erwartet, warum sperrt Indien sie dann in der Gegenwart ein? Die Regierung hat Ausgangssperren verhängt, zusätzliche Soldaten in die Region entsandt, tausende Menschen verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Darunter befanden sich selbst moderate Politiker. "Das Kaschmir, das sich für ein säkular-demokratisches Indien entschieden hat, ist nun mit einer Unterdrückung unglaublichen Ausmaßes konfrontiert", twitterte die frühere Regierungschefin Kaschmirs Mehbooba Mufti, bevor ihr wie den anderen Kaschmiris das Internet abgedreht wurde.

Angst vor Anschlägen

Indien verteidigt sein Vorgehen als "präventive Maßnahmen", um zu verhindern, dass es wie in der Vergangenheit zu Anschlägen kommt. Die Sicherheitsvorkehrungen würden nach und nach gelockert werden. Indien beschuldigt regelmäßig Pakistan, terroristische Gruppen für seine politischen Ziele zu unterstützen.

"Indien hat immer wieder auf die Karte des Terrorismusvorwurfs gegen Pakistan gesetzt, um von den grundlegenden Problemen in Kaschmir abzulenken", erwidert Botschafter Khan. "Friedliche Proteste werden verhindert. Der einzige Terrorismus ist der des indischen Staates."

Und so werden sich auch in Zukunft Indien und Pakistan mit Vorwürfen überhäufen. Die internationale Gemeinschaft scheint das Thema eher umgehen zu wollen, Kaschmir wird bei der Generalversammlung nach derzeitigem Stand wohl konsequenzenlos debattiert werden. Dabei könnte der brisante Konflikt noch weite, gefährliche Kreise ziehen. Mit Indien und Pakistan stehen einander zwei Atommächte gegenüber, und der Kaschmir-Konflikt spielt sich in einer verwundbaren Region ab, in der der oft auch gewalttätige Hindunationalismus immer mehr erstarkt und der islamistische Extremismus bereits eine Blutspur gelegt hat.