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Populismus als Verniedlichung

Von Alexander Dworzak

Politik

Wenn demokratische Normen ausgehöhlt werden, handle es sich um Tribalismus, sagt Polit-Analyst Péter Krekó.


"Wiener Zeitung": Was stört Sie am Begriff Populismus?

Péter Krekó: Ich habe drei Probleme damit: Erstens ist er zu einem Gemeinplatz verkommen. Er wird für alles verwendet, bedeutet dadurch nichts. Zweitens ist er eine Untertreibung. Populismus kann nur in einem demokratischen Umfeld mit gewissen Mindeststandards definiert werden. Politiker wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, Ungarns Premier Viktor Orbán und Russlands Präsident Wladimir Putin gelten als Populisten. Doch sie wollen nichts weniger als demokratische Institutionen abschaffen. Sie besanspruchen allesamt für sich, dass sie den Volkswillen repräsentieren. Gleichzeitig reduzieren sie die Möglichkeit für die Bürger, ihren Willen zu zeigen. So zählen Volksabstimmungen unter Orbán erst, wenn sich 50 Prozent beteiligen. Davor war das Votum gültig, wenn mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten dieselbe Antwort ankreuzten. Mein drittes Problem: Laut bisheriger Minimaldefinition sind populistische Politiker auch anti-elitär. Wenn die Parteien Regierungsverantwortung übernehmen, sind sie aber Teil der Elite.

Was ist die Konsequenz daraus?

Es ist konzeptuell falsch und eine Untertreibung, von Populismus zu sprechen. Der Begriff Tribalismus beschreibt das Verhalten besser. Das wichtigste Ziel des Politikers: Verteidige den eigenen Stamm, besiege den anderen und verwende jedes Mittel dafür, inklusive Korruption und Hilfe einer fremden Macht wie Russland. Wenn Politik als tribal verstanden wird, kann jede Überschreitung demokratischer Normen als Verteidigung des Stammes gerechtfertigt werden.

Ist Tribalismus automatisch auch ethnisch definiert?

Nicht zwangsweise.

Aber er beinhaltet immer ein Freund-Feind-Schema?

Ja. Der zweite Teil des 20. Jahrhunderts war geprägt von Verteilungsfragen. Nun geht es um Identität. Und jeder kann sich heute als Opfer fühlen - selbst Personen wie Orbán und der Chef der polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski.

Ihre Beispiele handeln von rechten Politikern. Wie steht es um Tribalismus von links?

Bei Anhängern von Bernie Sanders, dem Präsidentschaftskandidaten der US-Demokraten, und des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis findet sich ein geschlossenes Weltbild und der Glaube an eine uneingeschränkte Autorität. Selbst in Ungarn gibt es ein derartiges Phänomen, die Anhänger von Ex-Premier Ferenc Gyurcsány.

Sehen Sie ein Ost-West-Gefälle?

Sie finden Tribalismus in den USA und Großbritannien genauso wie in Zentral- und Osteuropa. Dort ist er aber gefährlicher, weil die politischen Institutionen schwächer sind.

Weil es jüngere Demokratien sind oder aufgrund der Gestaltungsmöglichkeiten wie der Verfassungsmehrheit für Orbáns Partei Fidesz?

Beides. Ungarns Premier konnte das Institutionengefüge komplett neu aufsetzen, ohne dass es zu einem öffentlichen Skandal geführt hat. Wenn niemand die Institutionen mag oder ihnen vertraut, interessiert es auch nicht, dass sie zerstört werden.

In Ungarn sind die Proteste gegen den Staatsumbau eingeschlafen, in Polen hält der Widerstand an. Woher stammt dieses Gefälle?

Die Dezentralisierung Polens ist ein wichtiger Faktor, meint Wojciech Przybylski, Chefradakteur von "Visegrad Insight". Ungarn dagegen war stets ein stark zentralisiertes Land. In Budapest konzentrieren sich ein Fünftel der Bevölkerung und 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Was macht handwerklich gut gemachten Tribalismus aus?

Er schafft es, die Leute unabhängig von deren wirtschaftlicher Lage hinter sich zu versammeln. In Ungarn sind die Gutverdiener und Hochgebildeten ebenso Anhänger Orbáns wie die Pensionisten und die Armen. Im Vordergrund steht, Angst zu verbreiten. Dass der Stamm in Gefahr ist, unsere Kultur, Gewohnheiten, Traditionen. Und erfolgreiche Politiker mobilisieren primär das eigene Lager mit hochemotionalen Themen. Sie brauchen nicht die Mehrheit, sie zielen auf eine aktive und laute Minderheit. Trumps Wahl 2016 ist das Idealbeispiel, er erhielt 2,9 Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton.

Aber warum ist Tribalismus so wirksam?

Evolutionär betrachtet war es die übliche Art, Politik zu betreiben. Demokratie besteht aus künstlichen Regeln. Wenn die Eliten diese nicht genügend verteidigen, gewinnen tribale Reflexe Überhand. Die Rechte hat dabei strategische Vorteile, weil die pessimistische Weltsicht, Partikularismus statt Universalismus und der kulturelle Chauvinismus gute Ausgangspunkte für Tribalismus sind. Am wirkungsvollsten wird Tribalismus, wenn es um ethnische Identitäten geht.

Macht die Globalisierung Tribalismus einfacher, weil sich die Konkurrenzsituation verschärft hat?

Ich sehe einen anderen Bezugspunkt: In Westeuropa herrscht seit 70 Jahren Frieden, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg verblassen. Wenn Sie heute einen Politiker einen Faschisten nennen, fällt es auf Sie zurück. Identitätspolitik ist unterhaltsamer als traditionelle Nachkriegspolitik. Und Politik braucht eine Dosis Dramatik. Negativkampagnen demobilisieren nicht, sondern mobilisieren die Wähler.

Kann diese Dosis Dramatik auch auf konstruktive Weise von Parteien genutzt werden?

Sie sollten nicht Feuer mit Feuer bekämpfen. Die Linke hat es nicht geschafft, die verlorenen Klassenidentitäten durch neue Kategorien der Identität zu ersetzen. Sich aber nur auf Arbeit oder den Wohlfahrtsstaat zu konzentrieren und Identitätspolitik komplett aufgeben, ist nicht genug für die Wähler. Die Grünen liefern hingegen eine größere Erzählung. Sie betreiben eine stark emotionalisierte Politik, begründet auf der Angst vor dem Klimawandel. Politik soll emotional sein.

Was sind die Extrembeispiele tribaler Politik?

In Ungarn schadet kein Korruptionsskandal der Popularität der Regierung. Diese sagt, wir müssen eine nationale Bourgeoise bilden, sonst verdrängt uns die "globale Elite". Ein perfektes Beispiel dafür, wie demokratische Verstöße moralisch begründet werden. Tribalismus überschreibt die Regeln des politischen Spiels. Diese Einstellung ist schlicht undemokratisch. Demokratien können aber nur funktionieren, wenn die Akteure ein Gentlemans Agreement haben, dass sie bestimmte Mittel nicht anwenden. Das haben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch "How Democracies Die" gezeigt.

Wenn aber Institutionen gekapert und wichtige Medien gleichgeschalten sind wie in Ungarn: Kann Tribalismus überhaupt zurückgedrängt werden?

In den 1990ern wurden dort demokratische Institutionen erfolgreich implementiert. Wenn man sie zerstören kann, dann kann man sie auch wieder aufbauen. Demokratie ist keine Einbahnstraße, es geht auf und ab. In jüngeren Demokratien wie Ungarn, aber auch in den USA.