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"Das ist nicht die Zeit für Wahlen"

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik
Staatschef Ashraf Ghani hat gute Chancen auf eine zweite Amtszeit.
© reu/Sobhani

Die Präsidentschaftswahl in Afghanistan am Samstag gibt kaum Anlass zu Optimismus. Viele Wähler sind angesichts der neuen Welle von Gewalt verängstigt und desinteressiert.


Es war eine schreckliche Woche für Afghanistan", schrieb die afghanische Frauenrechtlerin Wazhma Frogh auf Twitter. "Wir hatten eine Hochzeit in der Familie, aber niemand wollte feiern, jede Familie hatte einen Toten oder Verwundeten zu beklagen." In der vergangenen Woche sind bei Anschlägen hunderte Menschen getötet worden. Die Präsidentschaftswahl, die am Samstag beginnt, täuscht eine Normalität vor, die es am Hindukusch nicht gibt.

Etwa die Hälfte Afghanistans wird von den aufständischen Taliban kontrolliert, die gedroht haben, jeden, der wählen geht, umzubringen. In der vergangenen Woche töteten die Aufständischen bei einem Attentat auf eine Wahlkampfveranstaltung von Präsident Ashraf Ghani in der Parvan-Provinz, nördlich von Kabul, mindestens 26 Menschen. Ghani blieb unverletzt. Es war eine der wenigen Kundgebungen, die der Politiker persönlich bestritten hatte. Wegen der Gefahr von Attentaten hatte der 70-Jährige sonst zumeist über Skype oder Telefon zu einer kleinen Menge gesprochen. Zu einer Ghani-Kundgebung in der Logar-Provinz, südlich von Kabul, kamen in dieser Woche nicht einmal 30 Menschen. Das Risiko war vielen zu hoch.

"Dies ist nicht die Zeit für Wahlen", kritisiert der ehemalige Präsident Hamid Karzai, der zwischen 2004 und 2014 das Land regierte. Afghanistan brauche erst einmal Frieden, sagt der 61-Jährige. Die Wahl werde das Land noch tiefer in den Strudel der Gewalt ziehen.

Die Wahlbeteiligung bei der letzten Präsidentschaftswahl 2014 lag bei 58 Prozent, doch bei der um drei Jahre verspäteten Parlamentswahl 2018 machten nur noch 39 Prozent der registrierten Wähler von ihrer Stimme Gebrauch. Diesmal dürfte die Bilanz noch schlechter ausfallen. Laut einer Umfrage der Wahlbeobachtergruppe "Transparent Election Foundation of Afghanistan" (Tefa) in Kabul planen nur 43 Prozent der Befragten abzustimmen.

2000 Wahllokale bleiben zu

In vielen Gebieten ist es schlicht lebensgefährlich, an der Abstimmung teilzunehmen. In der Farah-Provinz im Westen Afghanistans bleiben diesmal 161 von 224 Wahllokalen geschlossen. Nach Schätzung der Parlamentarierin Belquis Roshan, die aus der Provinz stammt, werden nicht einmal 10.000 Menschen dort wählen gehen. Zum Vergleich: Die Provinz hat etwa eine Million Einwohner.

Auch Habib Khan Totakhil, ein Journalist und Restaurantbesitzer in Kabul, will diesmal nicht wählen gehen. "Die Abstimmung führt vermutlich nur zu einer weiteren Krise", meint Totakhil. Beinahe 2000 Wahllokale werden am Samstag aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Die verbleibenden 4942 sollen von etwa 72.000 Sicherheitskräften geschützt werden. Armee und Polizei haben zugesichert, alles zu tun, um die Wähler zu schützen, doch dies dürfte angesichts des Blutvergießens der vergangenen Wochen ein leeres Versprechen sein.

Eine Aufstellung des britischen Senders BBC zeichnet allein für den August ein verheerendes Bild: Demnach wurden 473 Zivilisten getötet. Insgesamt starben bei 611 Vorfällen 2307 Menschen - die Mehrzahl der Todesopfer waren Taliban-Kämpfer oder Sicherheitspersonal, doch Zivilisten machten ein Fünftel der im Konflikt Getöteten aus.

Dabei sind es nicht alleine die Taliban, die für das Blutvergießen verantwortlich sind. Auch das Militär hat seine Offensive verstärkt - zu Lasten von Zivilisten. Bei einem Angriff auf ein Taliban-Versteck in der Helmand-Provinz in Süden Afghanistans wurden am Sonntag 40 Mitglieder einer Hochzeitsgesellschaft getötet. In der vergangenen Woche starben in Nangarhar mindestens 16 Feldarbeiter bei einem US-Drohnenangriff.

Präsident Ghani gilt als klarer Favorit bei der Abstimmung. Der Politiker, der sich für eine zweite Amtszeit bewirbt, erhielt mit dem Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen den USA und den Taliban eine neue politische Chance. Anfang September hatte US-Präsident Donald Trump die Friedensverhandlungen per Twitter abgeblasen. Damit ist kein Ende des fast 18 Jahre dauernden Konflikts abzusehen. Statt dessen dreht sich die Spirale der Gewalt immer schneller.