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"Jedes Land hat das Recht, die eigenen Gesetze zu verändern"

Von Thomas Seifert

Politik

Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar über die umstrittene Streichung des Kaschmir-Paragrafen in der Verfassung.


Herr Außenminister, worin liegen die Herausforderungen für Indiens Außenpolitik?Subrahmanyam Jaishankar: Die Herausforderungen etwa bei den Freihandelsverträgen liegen in den unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Wir wollen unsere Freihandelsverträge durchaus ausbauen. Der Fokus hierbei liegt derzeit auf einem regionalen Abkommen mit Indonesien, Südkorea und China.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan?

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Nachbarn, und dieser Nachbar beschließt, dass es Teil seiner Strategie ist, ein Fließband der Terrorproduktion zu betreiben. Und stellen sich weiter vor, dass diese Terroristen den Auftrag haben, Sie mit diesen Mitteln an den Verhandlungstisch zu bringen. Das geht schon seit vielen Jahren so: Vor 18 Jahren hat eine Terrorgruppe unser Parlament attackiert, damals ist es unserem Sicherheitspersonal gelungen, sie zurückzuschlagen. Vor elf Jahren wurde das wohl bekannteste Hotel des Landes, das Taj in Mumbai, zum Ziel von Terroristen. 200 Menschen starben damals. Kann es dabei um Jammu und Kaschmir gegangen sein? Bei einem Anschlag in Delhi? Bei einer Terrorattacke in Mumbai?

Indien hat in seiner Verfassung Jammu und Kaschmir im Artikel 370 bestimmte Sonderrechte eingeräumt. Warum wurde dieser Artikel nun gestrichen?

Als Jammu und Kaschmir zu Indien kamen, geschah das auf rechtsstaatliche Weise. Dieser Artikel in unserer Verfassung war damals als temporäres Recht geplant. Dieses Provisorium war fast 70 Jahre lang in Kraft. Und nach 70 Jahren ist es wohl an der Zeit, dieses Provisorium zu beenden. Dieser Verfassungsartikel hat die Entwicklung im Bundesstaat gehemmt. Es wurden in Jammu und Kaschmir kaum private Bildungsinstitutionen gegründet, kaum private Spitäler gebaut, und es gab nur wenig Investitionen in Hotels. Nicht zuletzt dadurch hat sich dort ein bestimmtes Gefühl von Rückständigkeit und Vernachlässigung breitgemacht.

Die indische Regierung wurde für die Art und Weise, wie dieser Verfassungsartikel 370 gestrichen wurde, kritisiert.

Jedes Land hat das Recht, die eigenen Gesetze zu verändern. Ich möchte zudem betonen, dass Indien den Anspruch auf das gesamte Territorium von Jammu und Kaschmir nicht aufgibt. Unsere Erwartung ist, dass der von Pakistan widerrechtlich besetzte Teil eines Tages zu Indien zurückkehrt. Aber Territorialstreitigkeiten brauchen eben eine lange Zeit, bis sie gelöst sind.

Welche Position hat Indien in der Klimapolitik?

Da müssen wir definitiv mehr tun, auch wenn die Industrienationen ihre Versprechungen, die sie auf diversen Klimakonferenzen gemacht haben, nicht erfüllen. Sehen Sie sich doch an, wer nach der Klimakonferenz in Paris etwas unternommen hat! Da gibt es genau fünf Länder: Indien, Äthiopien, die Philippinen, Costa Rica und Bhutan.

Indien nimmt nicht an der von China initiierten Neuen Seidenstraße teil. Warum?

Ein Grund ist, dass ein Teil der von China finanzierten neuen Seidenstraße - der China-Pakistan-Wirtschaftskorridor - über umstrittenes Territorium führt. Als wir von dem Projekt erfahren haben, haben wir die Regierung in Peking gebeten, noch einmal einen Blick auf die Karte zu werfen. Ein Teil des Gebietes, um das es hier geht, ist nämlich nicht Teil von Pakistan, sondern dieses Territorium wird von Indien beansprucht.

Die Bharatiya Janata Party (BJP), deren Mitglied Sie sind, gilt als stark Hindu-nationalistisch.

Nicht alle Mitglieder der BJP sind Hindus. Vor allem im Ausland wird die BJP immer wieder als Karikatur gezeichnet. Es gibt in jeder Gesellschaft eben bestimmte demografische Fakten, und die demokratische Repräsentation muss diese Fakten reflektieren. Was Sie sehen, ist eine Evolution von Indien von einer elitistischen, urbanen Gesellschaft zu einer viel breiteren Gesellschaft. Ich sehe das als Fortschritt der Demokratie.



Das Interview wurde in Delhi von einer Gruppe österreichischer, Schweizer und deutscher Journalistinnen und Journalisten geführt.

Zur Person~ Subrahmanyam Jaishankar ist ein indischer Diplomat, er ist seit Ende Mai 2019 indischer Außenminister. Jaishankar ist Mitglied der Regierungspartei von Premier Narendra Modi, Bharatiya Janata Party. Jaishankar gilt als erfahrener Diplomat, er begann seine Diplomatenkarriere im Jahr 1977, war an der Botschaft in Moskau und später in Washington, Tokio und Prag. Zuletzt war er an als Botschafter in Peking und danach in den USA.