"Wiener Zeitung": Die Grundidee der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), deren Generalsekretär Sie sind, war, Vertrauen und Zusammenarbeit im Kalten Krieg zu fördern. Heute, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, herrscht in Europa Misstrauen zwischen den Machtblöcken, der Wille zur Zusammenarbeit ist denkbar gering. Was ist da schiefgelaufen?

Thomas Greminger: Es ist nicht gelungen, eine europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, hinter der alle - insbesondere alle zentralen - Akteure der europäischen Sicherheit stehen konnten. Das ist zumindest eine Teilerklärung dafür, weshalb die Grundverpflichtungen, die die Staaten seit 1975 im Rahmen der KSZE - und später der OSZE - eingegangen sind, in den letzten Jahren zum Teil massiv verletzt worden sind. Dabei werden diese Grundverpflichtungen von niemandem in Frage gestellt! Alle Parteien sind nach wie vor der Auffassung, dass der Dekalog - die Grundprinzipien der Helsinki-Schlussakte von 1975 - weiter gültig ist. Kooperation, vertrauensbildende Maßnahmen, Menschenrechte, eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten. Aber die Interpretation dieser Konzepte divergiert massiv. Die OSZE steht für kooperative Sicherheit. Doch unser Ansatz ist leider in den vergangenen Jahren stark unter Druck geraten. Das hängt damit zusammen, dass die politischen Führungsfiguren in manchen Ländern diese Konzepte nicht besonders fördern - was wohl auch mit den populistischen Strömungen in diesen Ländern zusammenhängt.

Wie wollen Sie das Vertrauen, das in den letzten Jahren verloren gegangen ist, wiederherstellen?

Wir haben ein historisches Vertrauensdefizit, das vergleichbar ist mit schwierigen Phasen im Kalten Krieg. Wir müssen das kooperative Sicherheitsdenken wieder in den Vordergrund rücken. Cybersecurity, Menschenhandel, Schmuggel oder die Bewältigung der Folgen des Klimawandels - selbst die mächtigsten Staaten können diese Herausforderungen nicht alleine bewältigen. Bei diesen Dingen - oder bei der Frage des Terrorismus oder gewalttätigem Extremismus - gibt es keine Ost-West-Gegensätze.

Hätten Sie vor 30 Jahren gedacht, dass die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland im Jahr 2019 so schlecht sein würden?

Natürlich nicht. Wer hat nicht gedacht, dass die Entwicklung nach dem Ende des Kalten Krieges linear positiv weitergeht? Heute gibt es selbst in der EU in einigen Staaten Rückschläge. Auch die Streitkultur macht mir Sorgen: Wir haben derzeit in Albanien und Montenegro die Situation, dass die unterlegene Opposition das Wahlresultat anzweifelt und versucht, über Straßenproteste Druck aufzubauen. Das sorgt für Instabilität. Aber gleichzeitig habe ich stets für eine differenzierte Betrachtung geworben: Proteste sind nun einmal Teil der politischen Willensbekundung. Doch es ist auch klar, dass die Entscheidungsfindung irgendwann in die formellen Institutionen zurückgetragen werden muss - und das ist das Parlament. Es braucht Unterstützung dafür, dass in diesen Ländern eine Dialog-Kultur entsteht. Beim europäischen Forum Alpbach ist bei einer Diskussionsrunde aus Alexis de Tocquevilles "Über die Demokratie in Amerika" und seiner Warnung vor einer "Tyrannei der Mehrheit" zitiert worden. Diese Gefahr besteht tatsächlich, dass die Demokratie zu einer Tyrannei der Mehrheit wird, wenn der Wille zum Konsens fehlt. In bestimmten Ländern kommt das Problem hinzu, dass dort sehr starke Führungspersönlichkeiten sehr solide im Sattel sitzen. Die brauchen eine besondere Sensibilität, auch noch die Meinungen der anderen zu hören.