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Die Digitalisierung des Menschenhandels

Von Siobhán Geets

Politik

Die Forscherin Jennifer Musto im Interview: "Ausbeutung gehört zu unserem Alltag."


"Wiener Zeitung": Wie nutzen kriminelle Gruppen neue Technologien und Medien, um Menschen anzuwerben und auszubeuten?Jennifer Musto: Die Art und Weise, wie sich die Technologie entwickelt, beeinflusst auch den Menschenhandel. Technologie macht bestimmte Phänomene sichtbar, die sonst versteckt geblieben wären. Ein Beispiel sind Anzeigenwebseiten. In den USA wurde die Seite Craigslist in den frühen 2000ern dazu genutzt, Menschenhandel im Sinne sexueller Ausbeutung zu bewerben. Viele sorgen sich, dass die Entwicklung der Technologie mehr Möglichkeiten zur Ausbeutung schafft. Wissenschafter versuchen herauszufinden, ob das wirklich so ist oder ob wir heute schlicht neue Möglichkeiten haben, diese Aktivitäten nachzuverfolgen.

Und? Wie lautet die Antwort?

Der Vergleich zu früher ist schwierig, weil wir nicht über genug Wissen verfügen. Technologien mögen Ausbeutung verschärfen, sie nutzen aber auch jenen, die dagegen ankämpfen. In den 2000ern waren Polizei und die Justiz in den USA überzeugt, dass man gegen Ausbeutung kämpfen muss, indem man die Webseiten schließt, die sie stützen. Seit einigen Jahren hat sich das geändert: Nun bleiben die Seiten und es werden in großem Stil Daten gesammelt.

Mit der Schließung von Seiten werden die Ursachen von Menschenhandel ohnehin nicht bekämpft. Schließt man eine, wachsen wohl drei nach.

Genau das ist der Punkt. Vollzugsbehörden, Polizei und NGOs, die gegen Menschenhandel vorgehen, werden häufig als homogene Gruppe dargestellt. Dabei haben sie sehr unterschiedliche Interessen. So hat etwa ein Polizist, den ich für mein Buch ("Control and Protect") interviewt habe, gemeint, dass ihm einschlägige Webseiten helfen, Beziehungen zu vermeintlichen Menschenhändlern und deren Opfern aufzubauen. Viele politische Entscheidungsträger sehen diesen investigativen Vorteil nicht und wollen die Seiten schließen. Die Frage für mich ist: Was hilft der Exekutive bei ihren Ermittlungen und welche Auswirkungen haben sie? Wie nutzen Polizei und NGOs Technologie, um Menschen zu helfen?

Sie kritisieren, dass bei Ermittlungen zu wenig Rücksicht auf den Datenschutz genommen wird. Ist das nicht nebensächlich im Kampf gegen Menschenhandel?

Das Recht, vergessen zu werden, gibt es in den USA quasi nicht. Die Frage ist, wie man Menschen helfen kann, denen die Technologie Schaden zugefügt hat und wie die Opfer von Menschenhandel ein neues Leben aufbauen können. Doch Technologien werden auch genutzt, um die Überwachung jener zu forcieren, die nichts mit Menschenhandel zu tun haben.

Die alte Frage, was wichtiger ist: Sicherheit oder Freiheit.

Wissenschafter arbeiten mit der Polizei zusammen, um Algorithmen zu entwickeln, die Menschenhändler ausfindig machen sollen. Diesen Prozess zu automatisieren klingt einerseits vielversprechend, aber die Herausforderung ist, dass es immer auf den Kontext ankommt. Welche Eigenschaften werden als riskant oder schädlich angesehen? Wie wird der Code programmiert? Es ist oft nicht einfach, Fälle von Menschenhandel von Sexarbeit zu unterscheiden. Wenn das schon im normalen Leben schwer ist, dann ist es das auch im Digitalen. Bei Menschenhandel brauchen wir Daten, wir brauchen Beweise, um zu erkennen, ob die Algorithmen funktionieren und Menschen tatsächlich helfen. Wir stehen erst am Anfang dieser Forschung.

Neue Medien werden genutzt, um Menschen gezielt anzuwerben. Haben sie die alten Strukturen ersetzt?

Technologien verändern die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, uns vernetzen. Ich warne vor technologischem Determinismus, der Idee, dass Technologien uns Dinge tun lassen, die wir sonst nicht täten. Strategien haben sich verändert, auch in der Rekrutierung von Menschen. In den USA arbeitet die Polizei mit den digitalen Spuren von Rekrutierung in den Sozialen Medien und auf Anzeigenplattformen. Die Herausforderung liegt in der Frage: Handelt es sich um Anwerbung zur Sexarbeit - illegal, aber in beidseitigem Einverständnis? Oder ist es Menschenhandel? Wird jemand freiwillig über eine Grenze geschmuggelt oder ist es Menschenhandel?

Um das herauszufinden, muss man wohl mit den Betroffenen sprechen.

Ja, es geht immer um den Kontext, in jeder sozialen Handlung. Wissenschafter sprechen von "Context Collapse": Neue Medien wie Facebook kümmern sich nicht um den Kontext. Jemand postet etwas, das für seine Freunde gedacht ist, aber auch andere Menschen sehen diesen Post, Fremde, die den Kontext nicht kennen. Soziale Medien planieren den Kontext. Wir müssen deshalb die Hintergründe erforschen.

Wie nutzen Kriminelle Neue Medien, um etwa an Kinder heranzukommen?

In den USA nutzen die Behörden etwa Bilder und E-Mails, die zwischen Erwachsenen und Minderjährigen ausgetauscht werden, als Beweismittel. Kindesmissbrauch, Kinderpornografie und Menschenhandel verschwimmen immer mehr. Sind Menschen, die das Darknet nutzen, um Kinder auszubeuten, dieselben, die mit Kindern handeln? Haben sie unterschiedliche Arten, zu operieren? Die Kategorien fließen ineinander und wir müssen uns fragen, ob wir die richtigen Werkzeuge haben, diesen scheinbar ähnlichen Phänomenen zu begegnen.

In Europa gab es einige Fälle, in denen Menschen in Diplomatenhaushalten als Haussklaven gefangen gehalten wurden. Wie schlimm ist dieses Problem, und wie kommt es dazu?

Ich forsche zur Situation in den USA, kann aber sagen: Ausbeutung gibt es in jeder Industrie und in jedem Sektor. Bestimmte politische Entscheidungen machen bestimmte Gruppen noch verletzlicher. Ausbeutung ist in unserer Gesellschaft integriert und gehört zum Alltag: auf Baustellen, im Haushalt, in der Pflege. Die Ausbeutung wuchert in unserer globalisierten Wirtschaft. Die Frage ist, wie wir diese Menschen besser erreichen und verstehen können und wie sie ihre eigenen Erfahrungen beschreiben.