Idlib. Mit der Tötung von Abu Bakr al-Baghdadi hat die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) ihren Anführer verloren. Nach Einschätzung von Experten kommen nur wenige Mitglieder der Extremistenorganisation für die Nachfolge des selbst ernannten Kalifen infrage, auch weil seine rechte Hand, der IS-Sprecher Abu Hassan al-Muhajir, ebenfalls bei einem US-Militäreinsatz in Nordsyrien getötet wurde.
Nach Ansicht des irakischen Dschihadismus-Experten Hisham al-Hashemi zählen zu den möglichen Nachfolgern der Tunesier Abu Othman al-Tunsi und der Saudi-Araber Abu Saleh al-Jusravi, der auch bekannt ist als Hadj Abdallah. Ersterer steht dem Schura-Rat vor, der in der IS-Struktur Beratungsaufgaben hat, während Jusravi den Rat der Delegierten leitet, der innerhalb der Organisation Exekutivfunktionen ausübt.
Beide haben aber laut Hashemi den großen Nachteil, dass sie nicht aus Syrien oder dem Irak stammen, wo die Gruppe vor allem verwurzelt ist. Baghdadi, der nach jahrelanger Jagd in der Nacht auf Sonntag in einem Versteck in der nordsyrischen Provinz Idlib aufgespürt und getötet wurde, war Iraker. Die Wahl eines Anführers, der nicht irakischer oder syrischer Herkunft ist, könnte zu Abspaltungen führen, sagt Hashemi.
Ein weiterer möglicher Nachfolger ist der frühere irakische Offizier Abdallah Kardash, der 2004 mit Baghdadi im US-Militärgefängnis Bucca inhaftiert war. In einer Erklärung des IS-Propagandaorgans Amaq wurde er vor einigen Monaten als designierter Nachfolger Baghdadis genannt. Doch gilt die Amaq-Erklärung als möglicherweise gefälscht. Im Jahr 2017 hatten mehrere Familienmitglieder mitgeteilt, Kardash sei tot.
Die IS-Miliz hat im März ihr letztes Gebiet in Syrien verloren und ist durch eine lange Serie von Niederlagen geschwächt. Tausende ihrer Anhänger befinden sich in Gefangenschaft, während der Rest im Untergrund lebt. Die Kommunikation zwischen den weit verstreuten Zellen ist schwierig und der Verfolgungsdruck ist weiterhin hoch.
"Nach dem Tod Baghdadis könnten die IS-Anhänger ihre Zugehörigkeit aufkündigen oder einfach beschließen, seinem Nachfolger nicht den Treueschwur zu leisten", sagt der Forscher Nate Rosenblatt von der Universität Oxford. Teile der IS-Miliz könnten sich dem früheren syrischen Al-Kaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) oder der Dschihadistengruppe Hurras al-Din anschließen, die beide im Nordwesten Syriens präsent sind.
Anders als Al-Kaida
Der Forscher Max Abrahms erwartet aber nicht, dass sich die Gruppe nach dem Tod ihres Anführers auflöst. Eher werde sie die Ränge schließen, sagt der Experte von der Northeastern University in Boston. "Hinsichtlich der Entscheidungsfindung, der Operationen und der Rekrutierung war der IS schon immer weitaus dezentralisierter als Al-Kaida", sagt Abrahms.
Seiner Ansicht nach ist es letztlich nur von untergeordneter Bedeutung, wer den Platz Baghdadis einnehmen wird, der seit 2014 ohnehin kaum in Erscheinung getreten war. Überleben werde die Extremistengruppe in jedem Fall - und weiterhin eine Bedrohung bleiben. (apa, afp, Hachem
Osseiran)