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Quamishli, die gefährlichste Stadt der Welt

Von WZ-Korrespondent Cedric Rehman aus Syrien

Politik

Die Hauptstadt Nordsyriens, Quamishli, erinnert an das geteilte Berlin vor 1989. Russisches und amerikanisches Militär sind eingerückt. Die Bevölkerung fürchtet neue Angriffe der Türkei.


In der Hölle müsse es schon einen Platz geben für die Christen aus Europa, sagt ein Mann im Alsalam-Krankenhaus von Quamishli. Fadi Sabri Habsoori ist syrischer Christ. Die Retter zogen seine Frau Juliette nach einem türkischen Luftangriff aus den Trümmern ihres Hauses in Quamishli. Die Ärzte in der Alsalam-Klinik stellten fest, dass ihre Wirbelsäule gebrochen ist. Ihre Beine wird sie nie wieder bewegen. Die 32-jährige Mutter starrt ins Leere und stöhnt. Die Klinik müsse Schmerzmittel sparsam anwenden, heißt es. Denn wer weiß, was in den kommenden Tagen und Wochen noch auf Nordsyrien zukommt.

Ihr Mann Fadi hält sich eine vernähte Wunde am Bauch. Er schaut zur Seite, als ein Reporter aus Europa den Raum betritt. Mit Ausländern aus dem Westen spreche er nicht, sagt er. Ärzte versuchen, ihn zu beruhigen. Schließlich sagt er doch etwas zu dem Europäer. Er fürchte die syrischen Rebellen, erklärt er. Von der Türkei unterstützte Teile der früheren Freien Syrischen Armee (FSA) kämpfen als Bodentruppen unter dem Schutz der türkischen Luftwaffe gegen die "Syrisch Demokratischen Kräfte" (SDF) in Nordsyrien. Für ihn seien das alles Dschihadisten. Jeder im Westen wisse, was deren Herrschaft für Christen bedeute, erklärt Habsoori. Der Syrer wäre mit seiner Frau und seinen Kindern längst über die Schmugglerpfade in die benachbarte Autonome Kurdenregion im Nordirak geflohen, sagt der 38-Jährige. "Aber wie soll ich in meinem Zustand meine Frau tragen?", sagt Habsoori. Die christlichen Länder im Westen trügen die Schuld daran, dass Christen wie er in Syrien nun in der Falle säßen, meint er.

Die Klinikdirektorin Ablisam al Mohamed schaut in ihrem Büro auf ein Porträt des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Ein Fotokalender mit Bildern von Assad steht auch auf ihrem Schreibtisch. Die Dinge waren in den vergangenen Jahren kompliziert in der Hauptstadt des auf Kurdisch Rojava genannten Gebietes. Die Truppen Assads zogen sich nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 aus dem Nordosten des Landes zurück. Sie mussten Kräfte sammeln gegen die damals noch schlagkräftige FSA. Die kurdische YPG-Miliz übernahm die Kontrolle im Nordosten Syriens und errichtete eine de facto autonome Region auf dem vor allem von Kurden bewohnten Gebiet.

© M. Hirsch

Später ging aus der YPG die mit den USA gegen die IS-Kämpfer verbündete SDF hervor. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die Syrer behielten in den Jahren der Autonomie Rojavas die Kontrolle über Teile von Quamishli und auch über das Alsalam-Krankenhaus. Obwohl die syrische Armee nun nach einem Abkommen zwischen der SDF und Damaskus in Nordsyrien vorrückt, scheint die Klinikleiterin nicht darauf zu hoffen, dass sie die Bevölkerung dort mit in Syrien ohnehin mehr als knappen Medikamenten versorgt.

Schmerzmittel fehlen

Sie zählt auf, was in der Klinik demnächst zur Neige geht: Schmerz- und Narkosemittel, Antibiotika, Blutkonserven. Eigentlich alles, was Ärzte benötigen, um Schwerverletzte zu retten. Die Kliniken unter Kontrolle der SDF seien voll mit verletzten Soldaten. Den Zivilisten blieben noch die wenigen privaten Kliniken wie das Alsalam-Krankenhaus, erklärt die Direktorin. "Sie behandeln Kriegsverletzte kostenlos", meint die Klinikleiterin. Das bedeutet, dass sie keine Einnahmen mehr haben und nur mit Geld lassen sich Medikamente beschaffen. "So oder so, wenn der Krieg weitergeht, sind wir erledigt", meint die Klinikdirektorin. Einige Straßen vom Alsalam-Krankenhaus entfernt, erinnert sich Edris Sheik Musa an die Stille nach dem ersten Luftangriff auf Quamishli. Ein Mörsergeschoss schlug vor seinem Haus in Quamishli ein.

Der Angriff schuf die erste Märtyrerin dieses Krieges, das Mädchen Sara. Die Nachbarskinder spielten auf der Straße, während ihre Eltern hektisch Kleidung und Papiere für die Flucht aus Quamishli zusammenpackten. "Sie haben es nicht gemerkt", meint Musa. Genau in dem Moment schlug der Mörser ein. Er zerfetzte den Sohn der Nachbarn. Seine Schwester Sara lag schwer verletzt in ihrem Blut. "Ich rannte auf die Straße, aber meine Ohren waren taub, ich hörte keine Schreie", erzählt Musa. Die Videos von der schwer verletzten Sara rührten die Menschen in der benachbarten Autonomen Kurdenregion im Nordirak. Die Behörden dort erlaubten den Transport Saras in eine der besten Kliniken des Nordirak.

Edris Sheik Musa bereitet mit seinen Kindern die Flucht aus Quamishli vor.
© Rehmann

Schwieriger Weg hinaus

Drei Wochen später beaufsichtigt Musa seine eigenen Kinder beim Spielen auf der Straße. Sie hüpfen um den inzwischen mit Regenwasser gefüllten Krater im Asphalt herum. Der Vater sieht ihnen zu. "Es sind ja keine Flugzeuge am Himmel", sagt er. So wie die Nachbarn hätten auch seine Frau und er alles zurechtgelegt für die Flucht aus Quamishli. Sie trauen dem Abkommen zwischen der Türkei und Russland nicht, das den Krieg beenden sollte. Es sieht vor, dass sich die SDF aus einem 120 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Streifen von der türkischen Grenze zurückzieht und russisch-türkischen Patrouillen Platz macht.

Der Rückzug ist laut SDF mittlerweile beendet. Doch rund um die Stadt Tell Tamer westlich von Quamishli wurde zuletzt noch gekämpft. Sind es bloß Scharmützel nach der Schlacht oder ist der Frieden schon zu Ende, woher soll das ein einfacher Familienvater wissen, meint Musa.

Der einzige Weg aus Rojava heraus führe mit der Hilfe von teuer bezahlten Schmugglern über Schleichwege. Sie führen die Flüchtenden an den Kontrollen der SDF vorbei. Die Miliz will eine Massenflucht aus Rojava verhindern, denn sie fürchtet leere Ortschaften, die Beute für Invasoren sein könnten. Das Geld, das Musa für die Schmugglerpacht ansparen könnte, wird immer knapper. "Schon allein für Brot zahlen wir inzwischen das Doppelte", sagt Musa. Es klingt fast so, als würde auch er sich in einer Falle fühlen.

Wie Berlin 1945

Quamishli erinnerte bereits in den vergangenen Jahren an das Berlin von 1945. Die Stadt ist in Sektoren aufgeteilt. Sie werden von der SDF oder der syrischen Armee kontrolliert. Doch nach dem Beginn der türkischen Militäroperation und der von Trump und Putin vermittelten Waffenruhen wirkt die Stadt wie das Berlin auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Zuerst tauchten die Russen in der Stadt auf. Sie besetzten den Flughafen und schicken von Quamishli aus ihre Truppen in die gemeinsam mit den Türken kontrollierte Sicherheitszone an der Grenze.

Vor wenigen Tagen rieben sich die Menschen in Quamishli erstaunt die Augen. Amerikanische Truppen tauchten wieder in den Straßen auf. Die Amerikaner verstecken ihre Flagge inzwischen. Sie wollen sie wohl nicht mehr zum Ziel von Paradeisern und Krautköpfen machen. So wurden sie verabschiedet, als sie nach Trumps Telefonat mit Erdogan und dem vom US-Präsidenten erklärten Rückzug der US-Armee vor einigen Wochen Hals über Kopf die Stadt verließen.

Autofahrer in Quamishli müssen sich in diesen Tagen in Geduld üben. Mal bewegt sich ein Konvoi der Amerikaner durch die Stadt und zieht eine Schlange hupender Autos hinter sich her. Mal verstopfen russische Militärfahrzeuge die Straßen. Bei Fahrten durch Quamishli begegnen sich nun schwer bewaffnete russische und amerikanische Soldaten. Oder die Amerikaner treffen bei Patrouillen auf Truppen des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die Syrer verschanzen sich an manchen Straßen hinter Sandsäcken.

Fadi Sabri Habsoori mit seiner schwer verletzten Frau Juliette.
© Rehmann

Über ihnen hängen Bilder Bashar al-Assads. Als könnte er mit grimmigen Blick den in von der SDF kontrollierten Stadtteilen auf Plakaten und Fahnen immer lächelnden PKK-Gründer Abdullah Öcalan in die Flucht schlagen.

Maschinengewehrsalven beendeten in den vergangenen Jahren immer wieder die Koexistenz zwischen Syrern und der SDF. Die Verbündeten der USA und Russlands schossen zuletzt vor einem Jahr in Quamishli aufeinander. Die SDF bat zwar Mitte Oktober das ihr verhasste Assad-Regime um Hilfe gegen die Übermacht der türkischen Armee. Aber die jahrzehntelange Unterdrückung der Kurden und aller nicht-arabischen Minderheiten durch Bashar al-Assad und seinen Vater Hafiz ist im Norden Syriens nicht vergessen.

Ein Feind steht nun also vor der Toren der Stadt. Ein anderer hilft, das Tor zu bewachen. Der SDF-Sprecher Gabriel Keno ist ein viel beschäftigter Mann in diesen Tagen. Während die Helfer der internationalen Organisation Nordsyrien verlassen, reisen Reporter in umgekehrter Richtung vom Nordirak nach Rojava. Keno empfängt einen Journalisten nach dem anderen. Auch nach dem von der SDF als Preisgabe empfundenen Abzug der US-Truppen scheint der Miliz wichtig zu sein, was der Westen über sie denkt. Keno ist ein gebildeter Mann. Den Vergleich von Quamishli mit dem geteilten Berlin des Kalten Krieges quittiert er mit einem wissenden Lächeln. Er spricht von einer "Herausforderung", Zusammenstöße zwischen den schwierigen und sich in herzlicher Abneigung verbundenen Akteuren zu vermeiden.

Zukunft geht in Rauch auf

Keno fordert einen neutralen Puffer, damit es nicht vielleicht nur wegen strapazierter Nerven in Quamishli wie 1961 am Checkpoint Charlie zu einem Showdown kommt. "Ich finde die Idee der deutschen Verteidigungsministerin interessant, europäische Truppen zu schicken, und es ist bedauerlich, dass es in der EU keine Resonanz darauf gibt", sagt Keno.

Die SDF habe schon vor Jahren vorgeschlagen, was der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vorschwebt. Eine von Europäern überwachte Pufferzone sei allemal einer gefährlichen Nähe von bis an die Zähne bewaffneten Türken, Syrern, Russen und Amerikanern entlang der Grenze vorzuziehen, meint Keno. Vielleicht trägt ja Saladin die Schuld an der verzweifelten Lage Rojavas.

An einem Tisch in einer Shishastube sinniert eine Gruppe Männer, unter ihnen Muslime und Jesiden, über ein drohendes Ende der Selbstverwaltung in Nordsyrien. Statt Ersparnisse zu horten wie andere in Quamishli, verqualmen sie ihr Geld in einer Shishastube. Die Zukunft Rojavas sehen sie ohnehin in Rauch aufgehen. Keiner glaubt, dass das syrische Regime weniger anstrebe als die völlige Kontrolle über Rojava. Und Russland als Garantiemacht sei so verlässlich wie die USA. "Die Russen lassen uns genauso fallen wie die USA, wenn die Türken ihnen etwas bieten", meint Bashar. Sein Freund, der Jeside Shirko Esa, ist überzeugt, dass der Westen den Kurden die Eroberung Jerusalems durch Saladin 1187 nicht verzeihen kann. Deshalb bestrafe er sie immer durch Verrat, meint er. Und dann zitiert er einen in diesen Tagen von vielen in Rojava geäußerten Satz: Die Kurden hätten auf der Welt nur einen verlässlichen Verbündeten: die Berge.