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Viel Wut, wenig Dialog in Hongkong

Von Klaus Huhold

Politik
Barrikaden an der Polytechnischen Universität: Die Hochschulen haben sich in Orte des Aufstands verwandelt.
© reu/Adnan Abidi

Die Lage schaukelt sich immer mehr hoch, und es herrscht Angst vor noch mehr Gewalt. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht.


"Wir können nicht mehr behaupten, dass Hongkong eine sichere Stadt ist", verkündete der Chefsekretär der Stadtverwaltung Matthew Cheung. Anlass dafür war, dass die Gewalt in den vergangenen Tage Ausmaße angenommen hat, die vor einigen Monaten noch kaum vorstellbar waren.

Ein Straßenkehrer wurde von einem Pflasterstein, den ein maskierter Demonstrant von einer Brücke geworfen hatte, getötet. Ein Mann, der offenbar randalierende Aktivisten kritisiert hatte, wurde mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet - schwer verwundet wurde das Opfer ins Spital gebracht. Auf der anderen Seite hat die Polizei einem Demonstranten in den Bauch geschossen - dieser befand sich am Freitag im kritischen Zustand. Zudem ist ein Demonstrant bei einem Sturz vom Dach eines Parkhauses gestorben. Mitglieder der Protestbewegung gaben der Polizei Mitschuld an seinem Tod. Und am Freitag schwappte die Gewalt sogar auf das Ausland über: Die Hongkonger Justizministerin Teresa Cheng wurde bei einem Besuch in London von Demonstranten angebrüllt und zu Boden gestoßen. Laut der Hongkonger Führung hat Cheng "schwere körperliche Schäden" erlitten.

Die Stimmung schaukelt sich also immer mehr hoch - und es kann jederzeit zu erneuten Gewaltausbrüchen kommen. So verbarrikadierten sich diese Woche Studenten an mehreren Universität, sammelten Pflastersteine und bastelten laut Augenzeugen auch an Molotowcocktails. An Lehrveranstaltungen ist derzeit nicht zu denken. Die Polizei hielt sich am Freitag zunächst noch von den Universitäten fern. Doch der Direktor der Chinese University, Rocky Tuan, verkündete bereits, dass er die Behörden um Hilfe bitten müsse, wenn die Universität "ihre grundlegenden Aufgaben nicht erfüllen kann".

Die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam bezeichnete die Demonstranten bereits als "Feinde der Bevölkerung". Die Vorsitzende der China-freundlichen Partei DAB forderte diejenigen Bewohner Hongkongs, die gegen die Proteste sind, bereits dazu auf, Barrikaden wegzuräumen und Plakate zu entfernen. Dabei solle sie freilich die Polizei schützen. Nun ist die Angst groß, dass in der Stadt, in der die Wut auf beiden Seiten der politischen Lager immer mehr hochkocht, zusehends Hongkonger auf Hongkonger losgehen.

KP will wohl keineSchwäche zeigen

Wie der politische Knoten, der sich mit jeder neuen Auseinandersetzung fester zuschnürt, zerschlagen oder wieder gelockert werden soll, steht derzeit in den Sternen. Entzündet hatten sich die Proteste an einem Auslieferungsgesetz, das es ermöglicht hätte, dass von China verdächtigte und gesuchte Personen aus der Sonderverwaltungszone in die Volksrepublik überstellt werden können. Der Ärger über das Gesetz wurde aber auch noch von einem viel tiefer sitzende Frust bestärkt: Dass nämlich Chinas KP die demokratischen Sonderrechte der Stadt immer mehr unterminiert. Diese Rechte sind der einstigen britischen Kronkolonie unter dem Schlagwort "Ein Land - zwei Systeme" bis 2047 zugesprochen worden.

Das Auslieferungsgesetz wurde zwar zurückgenommen, doch die Demokratieaktivisten fordern mittlerweile noch viel mehr: etwa freie Wahlen, den Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam sowie eine unabhängige Untersuchung von Polizeibrutalität - sie kritisieren nämlich, dass bis jetzt lediglich Demonstranten, aber noch kein Ordnungshüter für Gewalttaten belangt wurden.

Wenn nun Chinas KP, und möglich wäre das auch über die Hongkonger Stadtregierung, einzelnen Forderungen der Demonstranten nachgibt, könnte das die Situation vielleicht beruhigen. Allerdings würde so ein Nachgeben wohl nicht dem Selbstverständnis der KP entsprechen. Es wäre ein Zeichen der Schwäche - das auch die Bevölkerung in der Volksrepublik so wahrnehmen würde.

Innerhalb der Aktivisten gibt es allerdings auch keinen Ansprechpartner. Die Protestbewegung ist in Chatgruppen dezentral organisiert und ringt oft stundenlang um eine einzelne Straßenblockaden.

Offenbar gibt es aber eine Strömung, die meint, dass nur radikale Aktionen Nachhall finden. Dahinter liegt die Erfahrung, dass der friedliche Weg nichts bringt. So wurden Politiker, die im Stadtparlament mehr Freiheiten für Hongkong forderten, angeklagt, entsprechende Parteien verboten. Und je mehr sich die Situation hochschaukelt, desto größer wird die Wut und die Gewaltbereitschaft. Das könnte aber genau das Gegenteil von dem bewirken, was die Demonstranten wollen: Nämlich dass Peking doch direkt eingreift und die Proteste mit dem Militär oder polizeilichen Spezialeinheiten niederschlägt.

Hongkong ist in eine technische Rezession gerutscht

Allerdings scheint es auch innerhalb der KP-Führung in der Hongkong-Frage keine klare Linie zu geben. Über die Staatsmedien wird zwar immer angekündigt, dass man das Chaos nicht länger dulden werde. Doch bisher hat Peking nur Drohkulissen aufgebaut. Dies deutet laut Beobachtern darauf hin, dass gewichtige Parteikader weiterhin darauf setzen, dass sich die Proteste müde laufen oder die Aktivisten von der restlichen Hongkonger Bevölkerung isoliert werden können.

Denn die Unruhen haben auch wirtschaftliche Auswirkungen. Die Finanzmetropole ist erstmals seit einem Jahrzehnt in die Rezession gerutscht ist. So schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt von Juli bis September um 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Es ist das zweite Vierteljahr in Folge mit einem Rückgang, was eine technische Rezession bedeutet.