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"Die USA sind für Europa unverzichtbar"

Von Gerhard Lechner

Politik

Nato-Kenner Jamie Shea über die Konflikte zwischen US-Präsident Donald Trump und seinen europäischen Nato-Partnern, den schwierigen Verbündeten Türkei und die mögliche Bedrohung Europas durch Russland.


"Wiener Zeitung": Der französische Präsident Emmanuel Macron hat unlängst vom "Hirntod" der Nato gesprochen und damit eine Debatte ausgelöst. Ist die Nato in der Ära von US-Präsident Donald Trump tatsächlich "hirntot"? Funktioniert sie nicht mehr?

Jamie Shea: Nein. Zwar gibt es heute mehr scharfe Rhetorik von jenseits des Atlantiks als früher. Aber wenn Sie sich die Fakten ansehen, funktioniert die Nato sogar sehr gut. Seit 2014, nachdem Russland die Krim annektiert hat, hat man in Ostmitteleuropa die kollektive Nato-Verteidigung reaktiviert. Die Amerikaner nehmen dort an Nato-Übungen teil, bauen neue Infrastruktur in Polen und erhöhen ihre Truppenstärke. Außerdem wird die Nato auch im Nahen Osten aktiver. So waren Nato-Truppen Teil der Koalition gegen den IS. Und schließlich ist die Nato sehr aktiv, wenn es um die Abwehr neuer Bedrohungen geht wie etwa hybrider Kriegsführung oder Cyberattacken. Ich finde, die Nato ist eine quicklebendige, sehr gesunde Organisation.

Aber kehren die USA nicht gerade Europa den Rücken?

Ironischerweise ist das, was Trump sagt, richtig: Die Präsenz der USA in Europa ist unter der Trump-Administration etwa viermal so stark wie unter dessen Amtsvorgänger Barack Obama. Und schließlich ist da noch eine Sache: Die europäischen Nato-Staaten investieren heute mehr in Verteidigung. 2014 lag das, was die Nato-Staaten für Verteidigung ausgaben, bei 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Jetzt liegt es bei 1,7 Prozent des BIP. Deshalb würde ich sagen: Schauen wir lieber auf die Fakten, dann sieht das Bild gleich viel besser aus.

Manchmal lassen aber auch die Fakten einen Kurswechsel erkennen. So hat Trump sich dazu entschlossen, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen. Das geschah ohne große Konsultationen mit seinen Nato-Partnern. Und mit der Türkei startete ein Nato-Mitglied eine Offensive in Syrien. Den Segen ihrer Verbündeten hatte die Türkei dafür nicht. Sind das nicht doch Anzeichen einer Krise der Nato?

"Krise" ist manchmal ein inflationär gebrauchtes Wort. Die Nato ist eine starke Allianz, aber sie war nie eine Allianz ohne Reibungen. Schließlich ist sie ja auch ein Verteidigungsbündnis von Demokratien mit oft unterschiedlichen Interessen. Es gab immer schon jede Menge Differenzen, jede Menge Streit unter den Alliierten. Natürlich wäre es gut gewesen, wenn es unter den Verbündeten mehr Konsultationen gegeben hätte, bevor die USA sich dazu durchgerungen haben, ihre Truppen aus Syrien abzuziehen. Wobei: Ganz abgezogen sind die US-Truppen ja nicht. 1000 US-Soldaten sind ja noch in Syrien. Es hat sich gar nicht so viel geändert, was die Präsenz der USA in Syrien betrifft.

Sie haben gesagt: Die Nato ist eine Allianz der Demokratien. Ist die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan wirklich noch eine Demokratie?

Nun, keine Demokratie ist absolut perfekt. In meinem Land Großbritannien sind heute viele wegen des Brexits sehr frustriert über die britische Demokratie. Was die Türkei betrifft, finden dort immerhin Wahlen statt. Bei den letzten Wahlen hat die Opposition sogar die Kontrolle über die Hauptstadt Ankara und die Metropole Istanbul zurückgewonnen.


Es gibt auch immer noch von der Staatsführung unabhängige Zeitungen, die die Regierung kritisieren und eine starke Zivilgesellschaft. Die Wahlen waren frei und fair - etwas, das man von Russland und von vielen anderen Ländern nicht behaupten kann. Kurz: Die Türkei ist immer noch eine Demokratie.

Falls sich der transatlantische Graben weiter vertieft: Ist ein europäisches Sicherheitssystem ohne die Hilfe der USA überhaupt vorstellbar oder möglich? Kann es eine Nato ohne USA geben?

Wünschenswert wäre solch ein Szenario sicherlich nicht. Wenn ein europäischer Staat ein Problem mit, sagen wir, Russland hat, dann macht es einen enormen Unterschied aus, ob er die Rückendeckung der USA hat oder nicht. Wir Briten haben im Ersten und auch im Zweiten Weltkrieg gesehen, dass der Kriegseintritt der USA die Entscheidung brachte. Wenn sie in einem Sicherheitsverbund sind, in dem sie auf die USA bauen können, stärkt das im Bedrohungsfall ihre Entschlossenheit, zu kämpfen, enorm. Wenn sie versuchen, die Politik von Großmächten wie Russland, China, Indien oder dem Iran zu beeinflussen, gibt ihnen der Umstand, dass sie die USA auf ihrer Seite haben, ein viel größeres Gewicht, als wenn sie allein stehen. Natürlich, Sie haben schon recht: Zurzeit durchleben die transatlantischen Beziehungen keine einfache Zeit. Aber es wäre dumm, ihr Ende auszurufen. Die Nato ist heute unter Amerikanern sogar populärer geworden, als sie es noch vor zehn Jahren war. Wir müssen also einfach durch diese schwierige Zeit hindurchtauchen.

Nehmen wir aber einmal an, es käme tatsächlich zum Bruch: Was müsste Europa dann tun?

Das Internationale Institut für Strategische Studien, ein Thinktank in London, hat sich die Europäischen Verteidigungsanstrengungen angesehen. Und es ist zu dem Schluss gekommen, dass Europa, wenn es sich ohne US-Hilfe selbst verteidigen müsste, 370 Milliarden Euro mehr für seine Verteidigung ausgeben müsste - eine gewaltige Summe. Was mich betrifft, bin ich ein großer Unterstützer der Autonomie Europas. Europa muss ohnehin eine Menge Dinge machen, wo die USA nicht eingreifen. Man denke nur an Libyen oder Bosnien. Wir brauchen unabhängige Einrichtungen, um das alles bewältigen zu können. Aber wenn es um große geostrategische Fragen geht, um Russland, China oder den Iran, brauchen wir die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten. Es ist ein wenig wie bei den Differenzen, die sich in manchen Ehen zeigen: Oft ist es besser, die Krise durchzutauchen, als sich scheiden zu lassen.

Sie haben jetzt immer wieder das Thema Russland angerissen. Trotz der Annexion der Krim und des selbstbewussten Auftretens in Syrien ist das heutige Russland ein Land, dessen globale Bedeutung im Vergleich zur früheren Sowjetunion deutlich abgenommen hat. Ein Krieg zwischen Russland und der Nato ist für viele kaum möglich. Geht von diesem Russland wirklich eine Gefahr für den Westen aus? Ist ein Krieg vorstellbar?

Vor 20 Jahren hätte ich gesagt, er ist es nicht. Nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Kalten Krieg, als wir eine Periode von Frieden und Partnerschaft erlebten. Aber seit 2014, als Russland die Krim annektierte, seine Truppen in die Ukraine und nach Syrien entsandte, seit dieser Zeit also kann man nicht mehr sagen, dass solch ein Szenario "unvorstellbar" ist. Man wird wohl sagen müssen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass so etwas passiert. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen "unvorstellbar" und "sehr unwahrscheinlich". Um jemanden ernsthaft zu bedrohen, brauchen sie zwei Dinge: die Fähigkeiten dazu und den Willen, ein großes Risiko einzugehen. Beim russischen Präsidenten Wladimir Putin haben sie jemanden, der die Fähigkeiten hätte - er hat das im Donbass gezeigt oder auf der Krim. Die russische Armee ist heute modernisiert. Und er hat auch gezeigt, dass er bereit ist, Risiken einzugehen und dabei die Konsequenzen solcher Risiken auf sich zu nehmen, etwa Sanktionen. Wir haben es heute sogar mit einem weniger vorhersagbar agierenden Russland zu tun als zur Zeit der Sowjetunion.

Das muss aber nicht heißen, dass Moskau deswegen gleich einen Krieg mit dem Westen vom Zaun bricht. Die Rüstungsausgaben der Nato-Staaten liegen doch weit über denen Russlands.

Das stimmt natürlich. Die militärische Macht der USA und der Nato-Staaten ist höher als die Russlands. Aber wenn die amerikanischen Flugzeugträger sich gerade im Südchinesischen Meer befinden und die europäischen Truppen in Afrika oder im Nahen Osten, gibt es schon ein Risiko -zumindest lokal, in Osteuropa. Die dortigen Staaten sind zwar heute Nato-Mitglieder. Aber Russland hat achtmal so viele Panzer, rund zehnmal so viele gepanzerte Truppentransporter und viel mehr Soldaten dort stationiert als die Nato. Es hat also zumindest in den baltischen Staaten einen gewissen militärischen Vorteil. Und das ist etwas, worauf sich die Nato im Sinne einer Abschreckung vorbereiten muss.

Jamie Shae war auf Einladung des Austria Instituts für Europa und Sicherheitspolitik (AIES) zu Gast in Wien.