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Proteste im Irak zeigen Wirkung

Von Michael Schmölzer

Politik

Premier Mahdi bietet nach Kritik durch geistliches Oberhaupt Rücktritt an. Gewalt forderte bisher hunderte Todesopfer.


Es ist ein Flächenbrand, der den Irak erfasst hat: Die Demonstrationen gegen die politische Elite und den Einfluss des Iran und der USA nahmen ihren Ausgang Anfang Oktober auf dem Bagdader Tahrir-Platz. Mittlerweile haben die wütenden Proteste auch den Süden des Landes erfasst.

Nach 400 Todesopfern - in der Mehrzahl handelt es sich um junge Männer - war am Freitag das Maß voll. Der irakische Regierungschef und Oberbefehlshaber Adel Abdel Mahdi erklärte, dass er dem Parlament seine Ablösung vorschlagen werde.

Der Premier muss den Rückzug antreten, weil das geistliche Oberhaupt der Schiiten im Irak, Großayatollah Ali al-Sistani, den Umgang der Regierung mit den Protesten heftig kritisiert hatte. Er forderte das Parlament auf, einem Kabinett, das nicht mehr fähig sei, mit der Situation umzugehen, das Vertrauen zu entziehen.

Der Großayatollah genießt im Irak enormes Ansehen unter den Gläubigen, die sich am Freitag in Massen zum Gebet einfanden. Der politische Einfluss al-Sistanis ist entsprechend stark. Zuvor hatte auch der schiitische Geistliche Moktada al-Sadr eine Ablöse der Regierung gefordert. Al-Sadr hat eine tatkräftige Anhängerschaft unter den Jungen in den bevölkerungsreichen Stadtvierteln Bagdads.

Einzigartige Brutalität

Premier Mahdi meinte am Freitag in einem Brief an die Parlamentarier, er wolle mit seinem Angebot verhindern, dass das Land weiter in Gewalt und Chaos abgleite. Der 77 Jahre alte schiitische Politiker ist erst seit mehr als einem Jahr im Amt. Seiner Bestellung war ein monatelanges politisches Ringen vorangegangen.

Die Sicherheitskräfte sind in den letzten Wochen mit einer Brutalität vorgegangen, die ihresgleichen sucht. Allein am Mittwochabend und am folgenden Donnerstag sind 47 Menschen ums Leben gekommen. Die irakische Polizei ist in der Abwehr von Terroristen, nicht aber im Umgang mit Demonstranten geschult.

Alleine in Nassiriya, im Süden des Landes, wurden 32 Menschen getötet, in der Stadt Najaf 15 Personen. Nun wird auch Kerbala von der Gewalt erfasst. Überall blockierten Demonstranten die Straßen mit brennenden Reifen. Behörden und Schulen blieben zuletzt geschlossen.

Seit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins durch eine US-Invasion im 2003 hat es derartige Unruhen nicht mehr gegeben. Die Zustände in Bagdad waren zuletzt bürgerkriegsähnlich. Über dem Zentrum der Stadt lag eine beizende Tränengaswolke, die Sirenen der Ambulanzfahrzeuge heulten permanent, es wurde geschossen. Die Sicherheitskräfte verschanzten sich hinter Betonbarrieren, Scharfschützen nahmen Demonstranten gezielt ins Visier. Die versuchten, nach und nach die Tigris-Brücken zu erobern mit dem Ziel, Bagdad lahmzulegen. In den letzten Tagen haben sich die Proteste auf die bekannte Rashid-Straße konzentriert.

Die Tränengas-Patronen, die von der Polizei eingesetzt werden, haben enorme Wirkung. Wer einen Beinbruch erleidet, ist noch glimpflich davongekommen. Treffer auf Oberkörper oder Kopf sind häufig tödlich. Es geht das Gerücht um, dass die Patronen mit Chloringas gefüllt sind - einem Giftgas, das großen Schaden anrichtet.

Aber auch die Demonstranten sind bewaffnet. Sie nehmen die Sicherheitskräfte mit Schleudern ins Visier, als Munition dienen Bleikugeln.

Die Verwundeten werden in kleinen Autos, die permanent im Einsatz sind, in die Spitäler gebracht. 18.000 Menschen wurden bisher verletzt.

Wut auf das System

Die Demonstranten gehen ein großes Risiko ein. Doch ihre Wut auf das herrschende System ist ebenfalls enorm.

Der Staat hat es trotz des großen Ölreichtums nicht geschafft, grundlegende Dienstleistungen wie die Versorgung mit Strom und Wasser zu gewährleisten. Der Irak ist heute, 16 Jahre nach Saddam Husseins Tod, eines der korruptesten Länder der Welt - die Eliten werden verdächtigt, seit 2003 an die 450 Milliarden Dollar in die eigenen Taschen gesteckt zu haben. Zudem haben die Protestierenden die Nase voll, von ausländischen Mächten gegängelt zu werden. "Raus mit dem Iran!", "Raus mit Amerika" ist überall auf den Hausmauern zu lesen.

Nun wird das irakische Parlament über den Rücktritt des Premiers abstimmen. Die Opposition aus den Anhängern von Ex-Premier Haydar al-Abadi und Moktada al-Sadr erklärte sich bereit, der Regierung das Vertrauen zu entziehen. Sadrs Block hatte bei der letzten Wahl im Mai 2018 die meisten Mandate gewonnen. Auch der Fatah-Block, der der politische Arm der pro-iranischen Hashed-al-Shaabi-Milizen ist, schien dem Appell von Sistani zu folgen und erklärte seine Unterstützung für "die notwendigen Veränderungen im Interesse des Irak".

Geht es nach den Demonstranten, ist die aktuelle Regierung eher heute als morgen Geschichte. Man ist in Feierstimmung, am Tahrir-Platz sind symbolisch einige Galgen aufgestellt, Puppen sollen den Premier und andere Politiker verkörpern. Das Rücktrittsangebot Mahdis ist ein erster großer Erfolg, den sich die Protestbewegung auf die Fahnen heften kann.