Zum Hauptinhalt springen

Die Revolutionäre aus Sadr City

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Nach dem Rücktritt des irakischen Premiers gehen die Proteste weiter. Die meisten Demonstranten kommen aus dem Schiitenviertel in Bagdad. Schiitenführer Moktada al-Sadr verliert seine Anhänger.


Es stinkt in Sadr City. Nach altem Fisch, verrotteten Abfällen, nach Abwässern, die in den Rinnsteinen der Straßen fließen. Wenn der Regen kommt, wie dieser Tage, mischt sich sein Wasser mit Fäkalien. Nirgends sieht man einen Abfluss. Das Regenwasser steht dann tagelang auf dem löchrigen Straßenpflaster oder auf den hügeligen Bürgersteigen. "Ich kann dann meinen Stand dichtmachen", sagt Ali Abbas, den alle nur Abu Tschai nennen, Vater des Tees.

Er hat seinen Stand neben einem Fast Food Laden aufgebaut, der Falafel verkauft. Wenn die Leute gegessen haben, nehmen sie bei Abu Tschai einen schwarzen, süßen, irakischen Tee oder einen "Hamuth". Das Getränk aus getrockneten Limetten, das sehr viel Vitamin C enthält, gilt als der Tipp im Winter gegen Erkältung. "Schaut euch doch um", antwortet Abu Tschai auf die Frage, was sich in den letzten Jahren hier getan habe. "Nichts." Der 29-jährige Iraker echauffiert sich: "Sie haben uns getäuscht und betrogen!"

Auch nach dem Rücktritt von Premierminister Adel Abdul Mahdi gehen die Proteste im Irak weiter. Die Demonstranten wollen auf keinen Fall weichen, bevor nicht alle ihre Forderungen erfüllt sind. Die Abdankung der Regierung war nur eine der Bedingungen. Sie wollen eine komplette Umstrukturierung des politischen Systems, das Schluss macht mit der ethnischen und religiösen Proporzaufteilung und vor allem jungen Leuten mehr Recht auf Mitsprache gewährt. Seit zwei Monaten gehen Millionen Iraker in Bagdad und den südlichen Provinzen des Landes dafür auf die Straßen.

Stadt der Revolution

Sadr City, auf Arabisch Medina al-Sadr genannt, ist der größte Slum der irakischen Hauptstadt. Hier leben mehrheitlich Schiiten, und mehrheitlich sind die drei Millionen Einwohner arm. Wer es zu etwas bringt, zieht an den Rand von Sadr City, in die Palästinastraße oder in einen anderen Bezirk. Doch es sind nicht viele, die von hier wegziehen. Es sind mehr, die hierherkommen.

Sadr City platzt aus allen Nähten. Nach dem Sturz der Monarchie 1959 gegründet, ließ der neue Premierminister General Abdel Karim Qasim das Terrain als Siedlungsgebiet für Iraker ausweisen, die massenhaft aus den südlichen Provinzen in die Hauptstadt strömten. Die Landflucht in die Stadt begann. Er nannte den neuen Stadtteil "Medina al-Thaura", Stadt der Revolution.

Und das ist Sadr City heute wieder. Die meisten der Demonstranten am Tahrir-Platz kommen von hier. Die Straßenkämpfer, die die Tigrisbrücken erobern mit dem Ziel, die Stadt lahmzulegen, ebenfalls. "Wir machen Revolution", geben sich Abu Tschai und die Männer um ihn herum kämpferisch. Zuletzt haben sie es mit tausenden Anhängern der schiitischen Hashed-al-Shaabi-Milizen zu tun bekommen. Die strömten am Donnerstag in einer offenbar koordinierten Aktion auf den Tahrir, trugen irakische Flaggen oder das Emblem der paramilitärischen Einheit. Die Demonstranten, die den Tahrir seit Wochen besetzen, sind nun beunruhigt.

Gegenüber Abu Tschais Teestand stehen reihenweise Tuk-Tuks, die dreirädrigen motorisierten Rikschas, die zu den Helden der Protestbewegung geworden sind. Die "Revolutionszeitung" ist nach ihnen benannt, unzählige Graffitis zeigen die kleinen, wendigen Wägelchen, die auch als Flugobjekte dargestellt werden, wie sie über allem schweben.

Hier auf dem Parkplatz in Sadr City ruhen sie sich aus, werden gewaschen und repariert, wenn sie vom Einsatz am Tahrir-Platz zurückkommen, werden aufgetankt, wenn sie wieder dorthin fahren. An normalen Tankstellen dürften sie nicht tanken, sagt Haider Mohammed, der gerade vom Tahrir-Platz zurückkommt, sie müssten auf der Straße die Kanister kaufen. Und tatsächlich sieht man überall in Sadr City mobile Tuk-Tuk-Tankstellen, die entweder Flaschen mit Treibstoff oder kleine Kanister verkaufen. In anderen Vierteln gebe es keinen Treibstoff für die roten und gelben Wägelchen, nur hier. Haider macht den Motor aus, atmet tief durch und fängt an zu reden.

"Wir transportieren die Verletzten ins Krankenhaus, kümmern uns um sie. Die würden sie sonst liegen lassen", ist sich Haider sicher. Auf die Frage, wer die sind, antwortet er: "Die, die auf uns schießen." Mittlerweile gibt es fast 400 Tote und bis zu 15.000 Verletzte in Bagdad und den südlichen Provinzen. Seit dem Rücktritt des Premiers ist etwas Ruhe eingekehrt. Auf beiden Seiten scheint eine Atempause vereinbart worden zu sein. Lediglich in Najaf, 180 Kilometer südlich von Bagdad, gab es am Montag noch brennende Barrikaden und Verwüstungen.

Zunächst war die Regierung wie gelähmt, als die Proteste am 1. Oktober begannen, reagierte nicht, schien abgetaucht. Dann sind Premier und Minister auf die politische Bühne zurückgekehrt, sprachen von Reformen und Veränderungen, aber auch davon, dass die Proteste mit allen Mitteln gestoppt werden müssten.

Die Demonstranten hielten die Reformpläne des Premiers für einen durchschaubaren Versuch, der Regierung Zeit zu verschaffen und sie über die Proteste hinwegzutragen. "Sie kidnappten diejenigen, die sich in der Protestbewegung irgendwie als Anführer hervortun, bedrohten deren Familien", hat Haider beobachtet. "Wie sollten wir denen noch glauben?"

"Sie müssen alle weg", sagt Haider aufgebracht. "Alle sind Diebe und Räuber und inzwischen auch Mörder." Der Rücktritt des Premiers allein reiche nicht. Wut und Verzweiflung über die Regierenden wechseln sich in seinen Worten ab. Seine aufgestaute Frustration sprudelt geradezu aus ihm heraus, so, als habe er auf den Moment gewartet, alles rauslassen zu können, was ihn jahrelang gequält hat. "Sie leben in Saus und Braus, während wir hier verrecken." Er habe schon alles gemacht, um Geld zu verdienen: Türsteher, Tagelöhner, Anstreicher, einfach alles. Jetzt fahre er Tuk-Tuk und das sei geliehen, gehöre nicht ihm. Eine Familie zu gründen, auf eigenen Beinen zu stehen, sei unter diesen Umständen undenkbar.

Dabei hat der 30-Jährige einen Hochschulabschluss in arabischer Literatur, könnte gut als Lehrer an Schulen arbeiten. In Sadr City würde er dringend gebraucht. Die durchschnittliche Klassenstärke liegt hier zwischen 55 und 60 Schülern. "Aber es gibt keine Jobs in diesem Land, keine Jobs für junge Leute", sagt Haider. Die politische Elite besteht im Irak aus älteren Herren, es ist ein Aufstand der Jungen.

"Zum Teufel mit dem Iran"

Mit einer Ausnahme: Moktada al-Sadr, seit 2003 Herr über Sadr City, ist 45 Jahre alt. Nach der Invasion der Amerikaner und Briten 2003 wurde das Viertel, das inzwischen Saddam City hieß, in Sadr City umbenannt - im Gedenken an den von Saddam ermordeten Großajatollah Mohammed Sadiq al-Sadr, Moktadas Vater. Insbesondere Schiiten, die unter dem Diktator verfolgt wurden, hatten sich hier niedergelassen. Moktada gründete eine Miliz, die Mahdi-Armee, die zeitweise bis zu 50.000 Mann zählte und sich den Einfluss im Stadtteil sicherte. Und nicht nur das. Seine Milizionäre erhielten eine militärische Ausbildung und versetzten ganz Bagdad in Angst und Schrecken.

Inzwischen fährt Moktada al-Sadr einen Ferrari, schickt seinen Sohn als Botschafter Iraks nach Südamerika, fliegt zum Autorennen nach Qom in den Iran.

"Zum Teufel mit dem Iran", kommentiert Haider die Entwicklungen. "Iran ist hinter der Regierung, Iran macht die Regierung, es ist alles die Schuld von Iran." "Wir werden nicht aufhören, bis sie alle weg sind", gibt sich ein Teetrinker bei Abu Tschai kämpferisch. "Irak den Irakern!" Dass al-Sadr seine Miliz in Saraya Salam - Friedensbrigaden - umgetauft hatte und sie seit dem Sieg über den IS vor zwei Jahren eigentlich entwaffnen wollte, kommentieren die Männer am Teestand so: "Wenn jemand tatsächlich eine Revolution im Irak hinbekommt, dann die Leute aus Sadr City."