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Hundert Rollstühle für Mossul

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson aus Mossul

Politik

Auch zweieinhalb Jahre nach der Befreiung aus den Klauen des IS ist das Ausmaß an Zerstörung in Mossul noch sichtbar. Der Wiederaufbau geht schleppend voran, zahlreiche Menschen sind auf Hilfe angewiesen.


Der Winter kommt, und Faris Naeem al-Janaby ist nervös. "Das muss besser isoliert werden", sagt er und zeigt auf die Haustüre, mit "dort abdichten" meint er die Fenster. Mit der Decke, die erst kürzlich betoniert wurde, ist er zufrieden. Auch nach stundenlangem Dauerregen hält sie dicht. Faris möchte fertig sein, bevor der Wintereinbruch kommt. In den kommenden Tagen sollen die letzten 146 Häuser flott sein für die kalte Jahreszeit. "Was man flott nennen kann", sagt der 49-jährige Bauingenieur. In den vergangenen drei Jahren hat der Iraker 1507 Häuser restauriert, renoviert, geflickt: in Mosul, der am meisten zerstörten Stadt im Irak.

Es klingt resigniert, wenn er sagt, dass er nur etwa 3300 US-Dollar pro Haus zur Verfügung hatte. "Das ist wenig für das Ausmaß der Zerstörung." Oft habe er die Menschen enttäuschen müssen, wenn er ihnen sagte, sie könnten nur ein oder zwei Zimmer wiederherstellen. Manchmal war es das buchstäbliche Dach über dem Kopf, das durch Luftangriffe zerstört wurde. Manchmal die Eingangshalle, die durch eine Autobombe kaputtging. Doch wollte er möglichst vielen helfen. Faris wird melancholisch, wenn er das Leid und die Verzweiflung der Menschen beschreibt, mit denen er es zu tun hatte. "Im Osten Mossuls geht es noch", meint er: "Dort waren etwa 20 Prozent der Häuser zerstört."

90.000 Menschen getötet

Im Westen, wo die Terrormiliz IS die Altstadt belagerte und heftige Kämpfe tobten, sind es mehr als 80 Prozent. Ein Bericht der US-Fachzeitschrift "PLOS Medicine" schreibt über Mossul, dass 130.000 Häuser zerstört und 90.000 Menschen getötet wurden. Das Ausmaß ist auch heute, zweieinhalb Jahre nach der Befreiung der Stadt aus den Klauen der Dschihadisten, noch sichtbar. Während im Osten langsam wieder Leben einkehrt, Geschäfte, Restaurants und die Universität ihren Betrieb aufnehmen, die Leute wieder in ihre Häuser zurückkehren, ist der Westen noch immer ein einziges Trümmerfeld.

Faris ist stolz, dass er und seine Organisation die Ersten waren, die Mossul nach dem IS-Terror wieder aufgebaut haben. Im Juli 2017 galt die Stadt als befreit, im September fing das RIRP (Rebuild Iraq Recruitment Program) an zu arbeiten. Der Name der deutschen NGO ist Programm: Rebuild, Wiederaufbau. Was macht das mit einem, wenn man jahrelang nur Trümmer sieht, Zerstörung und Elend? "Das ist der Irak", sagt Faris nüchtern. Nur vier Tage dauerte der Kampf um die zweitgrößte Stadt des Landes mit damals knapp drei Millionen Einwohnern. Für die Rückeroberung brauchte die irakische Armee, zusammen mit den Schiitenmilizen, die gegen den IS gegründet wurden, sowie der internationalen Anti-IS-Allianz, angeführt von den USA, fast neun Monate.

Salma ist überglücklich, als wir ihrer Tochter den Rollstuhl bringen. Amal ist 15 und seit ihrer Geburt schwer behindert. Sie kann nicht gehen, muss gefüttert werden. Wir sind in Intissar, einem der größten Stadtviertel Mossuls. In 7000 Häusern leben bis zu 100.000 Menschen. Hier wohnen die Ärmsten der Armen. An dem einzigen Schulgebäude des Viertels sind fünf unterschiedliche Schriftzeichen angebracht, fünf Bildungseinrichtungen teilen sich das Gebäude. Auch wenn Intissar "Sieger" heißt, fühlen sich die Einwohner eher als Verlierer. Als der IS kam, sind viele von ihnen aus Mossul geflohen, in die kurdischen Autonomiegebiete oder die Lager, die für sie errichtet wurden. In die leer stehenden Häuser zogen IS-Kämpfer ein. Als der Kampf um Mossul tobte, gab es Luftangriffe der USA. Die Schäden sind bis heute sichtbar. Wo früher Häuser standen, liegen jetzt Schutthaufen. "Die haben präzise gebombt", sagt Salmas Nachbar: "Sie wussten genau, wo der IS war." Als die früheren Besitzer nach der Befreiung zurückkamen, fanden sie oftmals nur noch Trümmer. Salma und Amal sind geblieben. Wie hätten sie mit ihrer Tochter fliehen sollen?

Als Faris und sein Team das Haus renovierten, weil in der Straße eine Autobombe explodiert war, stellten sie fest, dass Amal nicht mal einen Rollstuhl hatte. Sie war nicht die Einzige, berichtet der Bauingenieur. "Wir brauchen Rollstühle für Mossul", war das Fazit. Die deutsche Botschaft in Bagdad gab Geld, Faris und seine Männer konnten 100 Stühle kaufen. Zuerst habe man an türkische gedacht, weil die länger halten. Aber türkische Rollstühle gibt es in Mossul nicht zu kaufen. Also kaufte man "Made in China".

Ganze Stadtteile unbewohnbar

Vor der einzigen halbwegs funktionsfähigen Brücke über den Tigris bildet sich eine lange Schlange. Für die Bewohner von Mossul kann es Stunden dauern, um von einem zum anderen Tigrisufer zu gelangen. Die Altstadt im Westen der Stadt ist unbewohnbar. RIRP arbeitet in Al-Matahin, ein Mittelklassebezirk, der aus drei Teilen besteht und etwa 15 Minuten von der Altstadt entfernt liegt. "Am Anfang bekamen wir genug zu essen", sagt Alaa, als wir ihr den Rollstuhl für ihren Mann übergeben. Mossul bekam genügend Wasser, ausreichend Strom. Ein junger Verwalter wurde eingesetzt, gerade einmal 30 Jahre alt. Der IS wollte ein Zeichen setzen: Seht her, wir geben jungen Leute eine Chance. Doch dieser Zustand währte nicht lange. "Dann zeigten sie ihr wahres Gesicht", erzählt die 38-jährige Irakerin.

"Wir haben Gras gegessen"

Je mehr die Terrormiliz unter Druck geriet, desto beklemmender wurde die Situation für jene, die in Mossul geblieben sind. Die Frauen mussten sich voll verschleiern, durften nicht alleine aus dem Haus. Alkohol und Zigaretten waren tabu, Gebetszeiten mussten strikt eingehalten werden. Die extremistische islamische Ideologie griff wie ein Krake um sich. Es gab immer weniger zu essen. "Zum Schluss haben wir Gras aus dem Vorgarten gegessen, wir hatten nichts mehr." Jetzt haben zwei ihrer vier Kinder in der Chipsfabrik Arbeit gefunden und bringen jeweils 5000 irakische Dinar (etwa 4,50 Euro) pro Tag nach Hause. "Davon kaufen wir Brot und andere Nahrungsmittel", sagt Alaa: "Es geht uns gut."

Faris will noch das Wohnzimmer vergipsen und streichen, den Fußboden haben sie schon isoliert. "Wenn ich irakischer Präsident wäre", sagt er, "würde ich als Erstes die Moscheen in Diskotheken, Cafés oder Restaurants verwandeln, eine einzige pro Viertel zum Beten lassen. Was die Dschihadisten hier angerichtet haben, darf nie wieder passieren." Faris verabschiedet sich mit dem Versprechen, am nächsten Tag wiederzukommen und den Rest der Arbeit zu beenden.